Es war der 13.5.2020, ein denkwürdiger Tag. Denn nach einem Stay-at-home von mehr als 8 Wochen war es so weit: Am Vorabend um 23:02 Uhr eine plötzliche Mail aus der Tanzschule mit der Botschaft: Es geht wieder los! Huch, oh Schreck! Was? Kann doch nicht sein! Doch, der Armin aus Aachen macht’s möglich! Die Lockerungsorgien starten!
Stay-at-home
Ach, hatten wir uns so schön eingeigelt. Einmal alle zwei Wochen einkaufen gehen, z. B. abends um halb neun mit Mund-Nasen-Maske bei Rewe, kaum ein Mensch da. Schön den Griff des Einkaufswagens desinfizieren, möglichst verpackte Nahrungsmittel kaufen, Obst am liebsten eingepackt, wenig Fleisch kaufen. Oh, es gibt Mehl, und sogar 7 Sorten Toilettenpapier. Und dann nichts wie nach Hause. Da fühlt man sich nicht bedroht, die Gefahr ist ja visuell auf keinen Fall erkennbar.
8 Wochen lang gab es praktisch keine aushäusigen Kontakte, nur einmal die Enkel auf der Straße gesehen für 15 Minuten, einmal Toni und Magdalene kurz gesehen, mit Thomas gesprochen, der Terrier Winston ausführte. Radwechsel beim Auto. Das war es, fast vollständiges Physical distancing. Und das über so lange Zeit durchgehalten. Und es fühlte sich nicht einmal besonders schlimm an, denn es gab viele Telefonate, auch Videokonferenzen. Auch mussten wir uns ständig wegen Coronavirus informiert halten, Trends beobachten, am Telefon und unter uns austauschen, eben diesen Blog betreuen, das Haus aufräumen, den Garten pflegen, lesen, schreiben, Musik machen und viel mehr.
Back to life
Nun das: Plötzlich zurück ins Leben. Also wieder zum Tango wie vor 10 Wochen zuletzt. Na, das gab erstmal viele Überlegungen, unser Quaranto scientist Benjamin in Barcelona fand das angesichts der dortigen echten Ausgangssperre gar nicht witzig! Aber alle Tangofreunde – bis auf unsere Leader – hatten kein Problem damit. Also ab zur Tanzschule, es war halb acht, Desinfektionsmittel stand bereit, Flussdiagramme an der Wand und Piktogramme, der Raum noch größer geräumt als sonst, die Stühle und Tische nur am Rand, wie bei einer richtigen Milonga mit Cabeceo und so… Nur wir beide hatten den Mund-Nasenschutz aufgesetzt. Die anderen nicht, auch nicht die Trainer. Aber schön auf Abstand bedacht, mit fortschreitendem Tanzen in Tanzrichtung, kein Partnerwechsel – fast alles richtig gemacht. Da keine Wechsel erfolgten, wurde in den 50 Minuten fast nur getanzt. Das war gut so und machte Spaß – es geht noch nach so langer Zeit.
Dann kurze Verabschiedung, aber nicht mit Handshake oder Drücken oder gar Bützchen… das war’s. Bis nächste Woche!
Auf dem Rückweg noch zur Tanke: Dort war alles klar strukturiert, Betreten nur mit Maske erlaubt, die Wege zur Kasse und zurück war eindeutig markiert, Schutz über der Kasse. Diesel enthält auch keine Coronaviren. Basta!
Was bleibt als Eindruck?
Es fühlte sich zwiespältig an, etwas konstruiert oder willkürlich. Und teils werden auch die wesentlichen Infektionswege ignoriert, denn COVID-19 wird in erster Linie durch Tröpfchen-Infektion und in zweiter Linie durch Aerosole übertragen. Die Übertragung über die Hände ist vergleichsweise selten. Der geschlossene und nicht aktiv entlüftete Raum ist also per se ein Problem.
Nochmal die Fakten
Die Zahl der heute 16.5.20 in Remscheid aktiv mit Coronavirus Infizierten beträgt 14, vier mehr als gestern, die Dunkelziffer soll das 10 fache betragen, also 14 mal 10=140 Personen geschätzt, was 0,13 % der Remscheider Bevölkerung entsprechen würde. Also hört sich das Risiko individuell gesehen gering an, und das ist es auch derzeit. Aber epidemiologisch gesehen ist es nicht Null. Wir werden in drei oder vier Wochen wissen, ob diese Art der Öffnung sinnvoll war. Wenn diese Zuwachsrate so bliebe, wären es in zwei Wochen wieder 111 neu Infizierte in Remscheid, in 4 Wochen 33.888. Das ist „Küchenstatistik“. x hoch y. Tut mir leid. Das ist nichts für Verschwörungstheoretiker. Nur einfache Mathematik.
Am 23. und 24.5.2020 hat es einen intensiven WhatsApp-Thread in der Tango-Gruppe gegeben. Für die Mehrzahl waren Masken kein Problem, für wenige doch. Mal sehen, wie das ausgeht.
Dieses obige Szenario der Fallzunahme hat sich bis zum 25.5.20 nicht bestätigt. Es gibt noch 9 aktive Fälle mit nachgewiesener Coronavirus-Infektion, ein Patient mit positivem Nachweis liegt auf Normalstation im Krankenhaus. 17 Verstorbene mit Coronanachweis hat es in Remscheid bisher gegeben. Es sieht so aus, als ob die Pandemie abklingen würde.
Konsequenz
Doch lieber zunächst weiter Masken zumindest in potenziellen Risikosituationen in geschlossenen Räumen tragen?
Masken beißen nicht! Die tun uns nichts Böses!
Am 15.9.2021 gab es eine vorerst letzte Episode der Maskendiskussion in der Gruppe.
Ein Paar verabschiedete sich aufwendig und wortreich aus der Gruppe, in der man nun nicht mehr tanzen wolle. Es sei Zeit für Tanzen bei Veranstaltungen, nicht mehr für Unterricht. OK, das kann ich nach etwa 5 Jahren Unterricht gut nachvollziehen.
Man suchte dann noch mal Kontakt zu mir. Aber nicht in dem Sinne, dass einfach mal sein Bedauern über den Gesamtablauf der unseligen Diskussion vor einem Jahr ausdrücken wollte. Nein, es musste noch ausgedrückt werden, dass man mich sehr über mich geärgert hätte. Mit den Blogeinträgen hätte ich die Sache fixiert. Ich hätte sozusagen Schuld an der Nichtkommunikation. (Anm.: Allerdings gab es damals auch lange Posts über WhatsApp.) Und man sei doch gar kein Maskengegner.
Ich habe dann ausgedrückt, dass mich der Ablauf der Diskussion ebenfalls sehr verletzt hat. Ich könne allenfalls zugutehalten, dass die Coronasituation damals je nach persönlicher Konstellation unterschiedliche Reaktionen hervorgerufen habe. Diese reichten ja von panikartigem Verhalten über Kontraphobie bis hin zum Querdenkertum. Jeder füllte die Situation anders aus.
Zum Schluss blieb noch, alles Gute zu wünschen.
Schade allemal, eine Illusion weniger.
Jetzt haben wir uns doch wieder für 8 Termine angemeldet, trotz der Bedenken. Meine Meinung war, das zu Hause sitzen keine Alternative ist. Und die Gruppe Tango masquerados kommt nicht wirklich in Schwung. Auch wollen 2 weitere Paare nicht richtig, sie möchten lieber die Gruppe in der Tanzschule. Die Hälfte der Teilnehmer trägt weiterhin keine Maske, auch nicht die beiden Trainer. Heute liegt die Wocheninzidenz für Neuinfektionen bei 71/100000. Dennoch hat eine Teilnehmerin in eine Kneipe eingeladen. Dass damit die Allgemeinverfügung in Remscheid verletzt wird, spielt keine Rolle. Man könne die Teilnehmer ja an zwei Tische platzieren. Erlaubt sind nur max. 5 Personen aus zwei Haushalten. Das ist eine echt jüdische Umgehung der Vorschrift. Ach, was soll’s!
Masken, Masken und Kommunikation. Schlimm. Obwohl die Tangogruppe vom Alter her und der sozialen Situation privilegiert ist, gelingt die Einigung nicht. Ich hatte ein einstündiges Telefonat mit einem der Maskengegner. Seine Ablehnung der Masken für alle ist Folge einer persönlichen Missempfindung beim Maskentragen, obwohl er sich selbst als ziemlich gefährdet im Falle von Corona einschätzt. Ich erzählte von einem amerikanischen Medscape-Pulmonologen, der seinen Patienten das Maskentragen in der Öffentlichkeit dringend nahelegt. Er rät seinen Patienten, ein Maskentraining wie eine Desensibilisierung vorzunehmen, also zunehmende Tragezeiten als Vorbereitung. Bei dem langen Telefonat hatte ich Kopfschmerzen, was sonst eine Seltenheit ist. Eine Einigung für alle konnten wir nicht erzielen. Trotz meines Spruches „Masken für alle sind so gut wie die Impfung“. Der Komfort ist offensichtlich wichtiger. Die beiden Hochrisikopaare haben sich schon aus der Gruppe abgemeldet. Die Trainerassistentin meinte trotzig nur „Wer Angst hat, muss halt zuhause bleiben.“ OK, dann ist das so, ich meinte, wenn das so ist, weiß ich nicht, ob das noch meine Gruppe ist. Ich bin frustriert. Dann noch zwei lockere WhatsApps von den Urlaubern aus Frankreich, gleicher Tenor „Ich möchte keine Maske tragen!“ Fakten werden dabei nicht mal erwogen, ich denke an die mögliche Fremdgefährdung. Mir reicht’s. Ich stecke da jedenfalls keine Energie mehr hinein. Wir jedenfalls setzen weiter welche auf, und damit werden wir wohl nicht alleine bleiben. Ob wirklich eine zweite Welle von Corona kommt? Heute sind nachgewiesen 0,3 Promille der Remscheider Bevölkerung infiziert, d. h. 30 Personen.
Masken, Masken, und die Diskussion geht weiter. Am 1.8.20 war in Berlin eine große Demo von Covidioten, von Coronaleugnern, Impfgegnern, Weltverschwörern, Maskengegnern sowie Rechten und Leuten analog Pegida. Ohne Abstandsregeln, undizipliniert, unerhört! Wir kommen in Deutschland ganz gut weg mit Corona, und die Deppen verstehen es nicht.
Der Maskenthread in der Tangogruppe der Senioren geht auch weiter. Und weiter. Ich bin schon ganz kribbelig. Einfach Schweigen finde ich keine Alternative. Am 2.8.20 ist es dann so weit. Wir formulieren gemeinsam eine WhatsApp-Nachricht in die Gruppe. Dabei begrenzen wir uns möglichst in der Formulierung, da die möglichen Argumente bereits alle genannt wurden. Unser Tenor ist: Wenn zwei Paare der Gruppe aus berechtigten Gründen um das allgemeine Tragen von Masken in der Gruppe bitten, dann machen wir das. Alle tragen Masken. Basta. Wir haben noch nachgesetzt, dass wir ansonsten die Gruppe verlassen werden. Schaun wir mal, bisher hat noch niemand geantwortet.
Die USA präsentieren sich länger schon auch bei den Coronazahlen und den Sterbefällen daran ganz vorne, „America first„: 69000 neue Fälle waren es gestern. Und als wäre das nicht schon schlimm genug, im Bundesstaat Georgia tobt jetzt ein Maskenkrieg. Gouverneur Kemp verbietet es den Bürgermeistern des Staates, eine Maskenpflicht anzuordnen, und dies vermutlich, weil viele Republikaner die Maskenpflicht als Einschränkung der persönlichen Freiheit ablehnen. Das ist vollkommen verrückt, unlogisch bei den Sterbezahlen und extrem egoistisch. Das passt zum Land der unbegrenzten Möglichkeiten.
Noch einmal: Einfache Mund-Nasemasken scheinen 80 % der Infektionen mit COVID-19 verhindern zu können, wenn alle sie tragen, so die aktuelle wissenschaftliche Meinung. Ich vermute, dass die Impfung, wenn sie denn kommt, nicht besser sein wird. Es ist medizinisch gesehen unglaublich, dass eine so triviale Maßnahme derart wirksam ist.
Noch ein Nachtrag: Alle, also wirklich alle Anwesenden in der Tango argentino-Gruppe gehören zu den Menschen mit erhöhtem Risiko bei COVID-19-Infektion, und dies alleine schon wegen des Alters. Begleitkrankheiten liegen nach meinem Wissen auch etliche vor. Sorry, ich kann als Arzt die Maskendiskussion nicht verstehen. Sie werden uns begleiten, sobald wir uns draußen bewegen.
Gestern haben sich zwei Mitglieder der Gruppe wieder mal zu den Masken geäußert, es wäre eine große Erleichterung, nach den Ferien, also in vier Wochen, ohne Masken Tanzen zu können. Wem das Risiko zu hoch sei, der könne ja mit einer FFP2-Maske tanzen. Bisher hat niemand geantwortet, nach dem Thread im Mai kein Wunder. Es müssen aber wohl noch weitere Mitglieder so denken, denn der aktuelle Post war wohlformuliert.
Ich bin erstaunt, dass das Thema erneut schriftlich auftaucht, und dies wegen des Risikos der Eskalation. Aber immerhin spiegelt es die Heterogenität in der Gesellschaft wider. 20 % der Deutschen haben sowieso nichts mit Schutzmaßnahmen gegen Coronavirus am Hut, und es gibt eine breite Antimasken-Kampagne in den Medien – z. B. Springer – und der A-Partei samt der FDP. Und das, obwohl ihre Wirksamkeit bei der Infektionsvermeidung nicht mehr strittig ist, Risikoreduktion um mehr als 40 % nach aktuellen Daten.
Mir persönlich macht diese Art der Masken nichts aus. Ich bin als Arzt daran gewöhnt, einen halben Arbeitstag damit sogar Hochleistungen zu erbringen. Also was soll’s. Siehe Quaranto Walk, hier habe ich es noch mal live getestet, no problem.
Warum sind manche Menschen, die wie wir wirtschaftlich privilegiert sind, durch diesen dünnen Masken so beeinträchtigt? Geht es doch mehr um Politik, um’s Prinzip? Warum sind sie nicht in der Lage, einfach mal übergeordnet zu denken: Was mir beinahe nichts ausmacht und anderen sicher und mir selbst womöglich helfen kann, das machen wir selbstverständlich. Oder ist das zu viel verlangt?
Und jetzt schon sich auf die Zeit nach den Ferien festlegen, warum soll man das tun? Kommt durch die Urlaube und das allgemeine Laissez-faire die zweite Welle? Zumindest so lange sollte man abwarten, finde ich. Die jetzige Coronaverordnung macht schließlich Einschränkungen bis Ende Oktober. Gestern gab es in Wuppertal und Remscheid wieder vereinzelte Fälle. Leute, schaut ihr nicht nach Amerika? Bergamo vergessen?
Nachtrag, bei Heute abends in der ZDF-Umfrage gesehen: 87 % der Deutschen sind für eine Beibehaltung der Maskenpflicht beim Einkaufen. 69 % meinen, dass es durch die Urlaubsreisen zum Anstieg der COVID-19 kommen wird. Das hätte ich anders erwartet.
Ganz klar ist mir der Ablauf der Diskussion um die Masken in der Gruppe immer noch nicht. Mal sehen, was der heutige Tag bringt!
Aber noch etwas: Vorgestern hat der TNW als Eilmeldung gepostet, dass die Lockerung, was den Tanz von Paaren anbetrifft, nur für Tanzschulen gelten soll. Grund ist die Änderung von FAQ zur Coronaverordnung durch die Staatskanzlei. Die ist nämlich zuständig für Sportvereine, während das Wirtschaftsministerium sich um Corona und Tanzschulen kümmern soll.
Zweierlei Maß für Gleiches?
Oder dominieren bei Tanzschulen die wirtschaftlichen Gesichtspunkte? Da ist Corona anscheinend weniger wichtig. Bei Sportvereinen leistet man sich etwas mehr Vernunft.
Am 27.5.2020 ist wieder Tango mit Christian und Christiane. Alle haben Gesichtsmasken auf. Aber die Stimmung ist gedrückt, nicht locker wie sonst. Wir tanzen komplizierte Tempovariation, Zeitlupe, slow slow oder quick quick quick quick! Und das passend zur Musik, aber wenn die Musik einen durchlaufenden 4er quick Rhythmus hat wie bei Canaro, finde ich das nicht logisch. Bei Troilo ist das aber ok! Dann ist die Stunde rum. Gespräche hat es bis dahin nicht gegeben. Wir und zwei weitere Paare gehen sofort. Die Anderen stehen noch vor der Tür, und reden, über Masken, denke ich. Wie konnte es dahin kommen? Was haben wir nicht verstanden?