Werthaltige Krankheiten, gibt es das?
Ich hatte mir vorgenommen, mal darüber zu schreiben, dass es Krankheitsbilder gibt, die unser Medizinsystem besonders wertschätzt. Gemeint ist das Pimpen von Krankheiten oder Lebensphasen, das Aufwerten, die künstliche Erhöhung der Werthaltigkeit für die Leistungserbringer. Eine eigentlich glanzlose Krankheit wie eine Herzinsuffizienz gewinnt durch den Einsatz von Devices Strahlkraft, sie wird wirtschaftlich interessant. Was sollen wir davon halten?
Bei der Recherche zum obigen Thema fiel mir die aktuelle Monographie eines ehemaligen Chirurgisch-/orthopädischen Chefarztes in die Hand. Der entstammt immerhin meiner Altersliga. „Die Medizin verkauft ihre Seele“ von M. Wiedemann vom Juni 2020, veröffentlicht bei Springer. Erstaunlicherweise war der Text als freier Download verfügbar.
Der Autor hat einen etwas langatmigen Text mit vielen Wiederholungen geschrieben, dem meiner Meinung nach mehr Substanz gutgetan hätte. So fehlen konkrete Beispiele und Zahlenangaben weitgehend. Folglich bleibt als wesentliche und verdichtete Kernbotschaft nur: „Früher war alles besser“. Schade, der Ansatz wäre gut gewesen. Ich hatte mir mehr versprochen.
Seine Kritik am Arbeitszeitschutzgesetz finde ich deplatziert. Sie klärt die Situation dennoch weiter und soll als Beispiel für den Text insgesamt dienen: Dieser Autor hat das zugrundeliegende Problem nicht verstanden: Früher war nicht alles besser, im Gegenteil. Da hatten wir allmächtige, oft cholerische oder tyrannische Chefärzte und abgehobene Verwaltungen. Der Marburger Bund hat nicht ohne Grund die zahlreichen tariflichen Regelungen für Ärzte erarbeitet. Das Betriebsverfassungsgesetz bietet die Chance zum Ausgleich der Machtverhältnisse zwischen ursprünglich ohnmächtigen Jungärzten und den früher allmächtigen Vorgesetzten. Die Gesellschaft entwickelt sich weiter, wir Oldies sollten das zur Kenntnis nehmen!
Ich war nicht ohne Grund zeitweise Betriebsratsmitglied. Wenn junge Ärzte bei Fragen der Arbeitszeit nun Gesprächspartner der Geschäftsführung sind, dann wurde etwas erreicht. Das ist definitiv besser als früher.
Ich bin der Meinung, dass unser Medizinsystem einfach nur unsere Gesellschaft und deren Wertesystem widerspiegelt. Vielleicht hat es viele Fehler, es wäre verwunderlich, wenn es keine hätte. Aber es hat auch viele gute Seiten. Die Corona-Pandemie zeigte uns blitzlichtartig, dass das deutsche Medizinsystem recht gut da steht, dass es sehr leistungsfähig ist. Ja man kriegt sogar das Gefühl, dass es fast zu gut funktioniert. Zu keinem Zeitpunkt der Pandemie waren Intensivbetten Mangelware, im Gegenteil, es wären immer noch enorm viele Reservebetten zu mobilisieren gewesen. Das System scheint Überkapazitäten zu haben, und das in großem Ausmaß.
Hiermit wären wir wieder bei der Einleitung. Wenn unser Gesundheitssystem sehr leistungsfähig ist, so produziert es offensichtlich Überkapazitäten. Es werden in der deutschen Medizin offensichtlich ständig neue Felder erschlossen, die höheren Ertrag versprechen:
- Was limitiert den Einsatz der Bildgebung beispielsweise in der Onkologie oder auch in der Kardiologie? Wieviel Bildgebung ist nötig? Wieviel ist kosteneffizient?
- Wo liegen die Grenzen des Einsatzes von Devices in der Kardiologie? Die Verfügbarkeit und die technische Machbarkeit begründen jedenfalls nicht ihren Einsatz. Beispiel wäre eine leichtgradige Aortenklappenstenose beim Älteren.
- Wieviel Stenting von Coronargefäßen ist sinnvoll? Die unkritische Therapie von nachgewiesenen Stenosen führt meines Wissens nach nicht zur Prognoseverbesserung. Hilft denn Multistenting den Patienten?
- Was begrenzt den Einsatz von Devices in der Diabetologie? Gemeint sind Sensor-gestützte Pumpen beim Typ-I-Diabetes.
- Ab welchem Alter ist auf Vorsorgeuntersuchungen zu verzichten? Gibt es einen Konsens?
- Macht die sogenannte Durchuntersuchung Sinn, wenn keine Symptome vorliegen?
- Wieviel Gelenkersatz ist sinnvoll? Sofort neue Knie- und Hüftgelenke bei Beschwerden?
- Ist die Wirbelsäulenchirurgie als Schmerztherapie sinnvoll?
- Muss jeder Gallenstein immer operiert werden, wenn formale Kriterien stimmen? Man bedenke die große Häufigkeit!
- Die Kolondivertikulose ist so häufig, dass eine Ausweitung der Indikationsstellung zur Operation droht.
- Sind implantierbare Schmerzpumpen sinnvoll, wo es jede Menge Alternativen gibt?
- Die Bevorzugung von neuen, häufig sehr teuren Therapien. Ich denke an den großzügigen Einsatz von Biologicals bei chronischen Krankheiten.
- Wie verhält es sich mit Kosteneffizienz der sogenannten „Kästchenmedizin“, also dem repetitiven diagnostischen Einsatz des Biomonitorings von Blutdruck, Atmung, Sauerstoffsättigung, LZ-EKG, Arrhythmie-Devices, pH-der Speiseröhre, Impedanzmessung, EEG u. a.
- Ist die Suche nach Vitaminmangelzuständen bei Gesunden sinnvoll?
- Sind repetitive Endoskopien sinnvoll, also beispielsweise Endoskopien bei Patienten mit wiederkehrenden Bauchschmerzen?
- Was ist mit den Versicherungsstatus? Ist es von Vorteil, privat versichert zu sein?
Das sind nur wenige Beispiele aus meinem begrenzten Umfeld. Das Problem liegt immer darin, dass Zuwarten für die Patienten und die Ärzte wenig attraktiv ist, da dies ja als Entschlussschwäche gedeutet werden könnte. Wenn es nun den Konsens in der deutschen Bevölkerung gibt, eine optimale medizinische Versorgung ohne Rücksicht auf Kosten zu gewähren, dann ist das einfach so. Da braucht auch niemand zu lamentieren. Als Patient gewinnt man durch spezielle Leistungen das Interesse der Spezialisten, man ist dann wer, man wird wahrgenommen. Das Medizinsystem hat somit Ähnlichkeit mit unserem Konsumverhalten. Mehr ist einfach besser als weniger. Man geht ja beispielsweise nicht zum Shoppen, um dann nichts mit nach Hause zu nehmen. Das ist die immanente Logik auch unseres Gesundheitssystems.
Einfach nur eingeschränkt zu sein im Alter, ist hingegen nur langweilig. Das DRG-System belohnt das nicht, im Gegenteil. „Alt und krank“ ist aus Sicht des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen im Krankenhaus eine Fehlbelegung. Wenn der Patient die Goodies, die Devices und sonstige Supertherapien akzeptiert, dann ist alles „gut“, dann steht der Abrechenbarkeit nichts mehr im Wege.
Funktioniert so die Zuwendung in der Medizin von heute? Ist es einfach nur der Gang der Dinge, dass es überall Weiterentwicklungen gibt? Mit pauschaler Ablehnung von Innovation ist es definitiv auch nicht getan. Ich gebe zu, dass mich wieder mal die Ambivalenz plagt!