Noch mehr Sehnsucht geht kaum!
Das mit den virtuellen Tango-Veranstaltungen hat sich nun schon zu einem Standard entwickelt. Walter hat es uns im La Boca in Bochum vorgemacht, wie das geht. Er ist immer technisch und von der Musikauswahl her Spitze. Heiligabend und Silvester waren die ersten großen Veranstaltungen mit bis zu 56 Teilnehmern. Gestern waren wir auf einer neuen Online-Milonga in Münster, die von bis zu 46 Teilnehmern besucht war. Nettes Handling durch Katia y Christian und sehr gute Musikauswahl bei traditionellen Tangos!
Man schaut wie bei einem Setzkasten in verschiedene Wohnräume, sofern die Teilnehmer ihr Video zulassen. Bei etwa der Hälfte kann man erkennen, dass sie als Einzelpersonen teilnehmen. Und das, wo Tango immer mit unerfüllter Sehnsucht zu tun hat. Mit Alleinsein, mit Verlassenwerden, mit dem Damals. Und nun das Ganze auch noch virtuell, als Steigerungsform von Alleinsein. Die Armen! Ob da Chat und Breakout-Session von Zoom reichen? Hoffentlich geht Corona bald zu Ende.
Nun führen wir selbst in unserer kleinen Gruppe „Tangueros Enmascarados“ seit längerem einmal pro Woche solche Veranstaltungen durch. An den letzten Donnerstagen habe zunächst ich über Canaro erzählt, die Woche später Magdalene über D’Arienzo, und nun am 4.3.2021 Christa über Di Sarli. Begleitet war das jeweils von Tandas mit Musik unserer Protagonisten. Es ging darum, die Unterschiede herauszuarbeiten und tanzend zu erleben.
Bei Francisco Canaro fällt auf, dass er eine lange produktive Zeit hatte, mit unterschiedlichen Orchestern und Sängern. Insofern kann man eigentlich nicht von einem einheitlichen Stil sprechen, sondern von verschiedenen Phasen. Er hatte mit weitem Abstand die meisten Einspielungen. Insbesondere die letzten Titel klingen angenehm, ja fast elegant. Schön harmonisch. Für „Tango-Experten“ zu glatt.
Bei Juan D’Arienzo dominiert ein ausgeprägter Taktschlag, der meist mit den Bandoneons realisiert wird. Dieser betonte Rhythmus ist angenehm beim Tanzen, aber beim reinen Zuhören wirkt er manchmal übertrieben, ja er klingt schon mal unangenehm, wie getrieben oder schroff in meinen Ohren. Magdalene hat beispielhaft einen Link zu „Paciencia“ geschickt. Hier kann man den Meister im Film bei der Arbeit sehen, wie er Geduld interpretiert.
Bei Carlos Di Sarli, der eine vergleichsweise kurze Schaffensphase hatte, kann man den energischen Rhythmus auch bewundern, aber hier wird er meist von den Geigern gespielt. Nach so einer rhythmischen Phrasierung folgt gerne eine melodische, ja elegische und damit sanfte. Diese Unterschiede kann man sehr schön vertanzen. Seine Titel klingen dadurch angenehm. Er hatte ja eine klassische Ausbildung. So findet man das Prinzip des Kontrapunktes wieder, also Stimme und Gegenstimme, technische Spielereien beim Geigenspiel, betonten Pianobass als Effekt, öfter glockenartige Pianoläufe mit der rechten Hand gespielt. Seine Titel verwenden vergleichsweise viele musikalische Effekte.
Nächsten Donnerstag, also am 11.3.2021 geht es in unserer kleinen Gruppe um Carlos Gardel, Ilse wird berichten. Gardel wird heute zumindest auf Milongas und in den Internetradios fast nicht gespielt. Da fragt man sich: Warum? Wo er doch einer der ganz Großen ist und ein echter Star war. Weltweit! Nun, bei den mir vorliegenden Stücken wird er oft von einer Gruppe von Gitarrenspielern begleitet: „Los Guitarristas de Gardel.“ Es dominiert immer die Stimme von Gardel. Das sind oft mehr Gesangsnummern als Tanzmusik. Oder gar Folklore. Finde ich.
Darüber hinaus gibt es aber eine Reihe von Stücken, bei denen berühmte Orchester den Sänger Carlos Gardel begleiten, beispielsweise von Canaro. Hier ist der das Video „Rosas De Otono“, eine Filmusik mit dem Orquesta Canaro. Nun noch der Link zu einer Doppel-CD Carlos Gardel „Sus 50 mejores tangos“ CD2 completo, die auch etliche orchestrierte Einspielungen enthält. Ich bin gespannt auf den Abend um Gardel!
Ob das mit dem virtuellen Tango Normalität werden wird? Wie lange werden wir auf persönliche Kontakte verzichten müssen? Immerhin haben sich mit unserer kleinen Gruppe der Tangueros Enmascarados neue Wege ergeben. Die Beschäftigung mit den Tangoheroen und ihrer Musik ist schon eine gute Sache. Mal sehen, was sich sonst noch alles ergibt!
Das nennt man auch Coping, also Aktivierung unserer Selbstheilungskräfte als Reaktion auf die quälende Isolation.