Die Sprache meiner Kindheit!
Ich bin ja definitiv ein echter Oldie, denn die Sprache meiner Kindheit war ein Dialekt. Ein harter sogar, eine echte Muttersprache, also wirklich die Sprache meiner Mutter. Nicht das oberflächliche Fernseh-Hessisch, nein, nein, sondern eine genuine, bodenständige, ortsgebundene, mittelhessische Mundart, ein Topolekt. Wir vom Dorfe nennen den Platt. Der gehört zu den rheinfränkischen Dialekten im Westmitteldeutsch.
Der Ort heißt Atzbach, heute gehört er mit Dorlar und Waldgirmes zu Lahnau. Er liegt etwas erhöht am Rande des Gießener Beckens zwischen Gießen und Wetzlar. Eine schöne sonnige Lage. Dort wurde der Dialekt mal gesprochen.
Die Besonderheit im hiesigen regionalen Dialekt ist das gerollt R. Das bedeutet, dass beim R die Zunge leicht nach oben hinten gerollt wird. Der Mund ist nicht weit geöffnet, und die Zungenspitze stößt nicht am harten Gaumen an! Also ganz anders als im Sinne der Aussprache von Carolin Reiber, die das R ganz vorne spricht und dezent anstößt. Aber sehr viel eleganter, als es der Mittelhesse jemals schaffen könnte.
Dazu kommt, dass jedes einzelne Dorf hier, ja fast jede Familie ihre eigene Sprachvariante spricht bzw. sprach. Deswegen habe ich darauf verzichtet, mich bei den diversen mittelhessischen Wörterbüchern schlau zu machen. Hier ist so eines, das finde ich recht schön. Verfasst von „de Achim“, leider kein Impressum, vermutlich heißt der Autor Joachim Pausch. Ich habe auch auf Lautschrift i. S. eines Wörterbuches mit Phonetik verzichtet. Ich bin ja kein Linguist!
Denn der eigentliche Sprachklang, die Sprachmelodie, die Lautfärbung, die Verkürzungen, die stehenden Wortfolgen und mehr werden dadurch nicht richtig wiedergegeben. Mittelhessisch ist keine Schriftsprache, das war eine Sprache, die nur durch Sprechen von Generation zu Generation weitergegeben wurde. Man könnte sie auch als Soziolekt bezeichnen. Hier hört man meine Mutter sprechen. Sie bemüht sich, Hochdeutsch zu reden.
Um wieder einen Zugang zu meinem Diakekt zu finden, habe ich zunächst versucht, einzelne Worte aufzuschreiben. Dabei komme ich aber etwas ins Schwimmen. Bei manchen Worten weiß ich das nicht mehr haargenau, wie sie gesprochen wurden. Immerhin wohne ich seit 42 Jahren nicht mehr dort in Mittelhessen. Und Menschen, mit denen ich in der damaligen Form Mundart reden könnte, kenne ich nicht viele.
Ich habe als Trick entdeckt, dass die Erinnerung viel leichter geweckt werden kann, wenn ich ganze Sätze versuche zu sprechen, oder – und da sind wir bei der Imagination, die Toni uns nahe gebracht hat – wenn ich mir dabei die Szenen bildlich vorstelle! Dann klappt es prima. In kurzer Zeit habe ich eine ganze Sammlung von Worten und Redewendungen niederschreiben können. Erstaunlich, was alles noch so in der Erinnerung versteckt ist!
Eine weitere Steigerungsform des Mittelhessischen ist das Manische, das in Stadtteilen von Gießen und Wetzlar sowie teilweise im Marburger Land und im Wittgensteiner Land gesprochen wird bzw. wurde. Das ist eine für uns lustig klingende Mischung von Mittelhessisch, Roma-Sprache und Jiddisch. Gummiinsel und Finsterloh sind Namen der betreffenden Wohnsiedlungen. Das Manische war früher eine Art Geheimsprache der fahrenden Leute.
Till Schweiger, der selbst aus Gießen stammt, hat das Manische öffentlich als Randgruppensprache vorgestellt. Die Gießener Basketball-Mannschaft 46er Rackelos trägt ein Wort aus dem Manischen im Namen. Hier noch mehr manisch: Ein Link zu Bertin Geißlers Wortkunst!
Das war es aber auch schon fast mit den berühmten Protagonisten des mittelhessischen Dialektes. Mir fallen da natürlich noch die Gruppen Fäägmeel und ihr Nachfolger Meelstaa (ich würde Meelstoa sagen) ein. Berthold Schäfer aus dem Nachbarort Dorlar ist der Begründer. Meine Altersstufe. Sie singen schön eingängige Texte im lokalen Dialekt zu lockerer Musik, ich habe auch so eine CD von Fäägmeel. Meelstaa tritt hoffentlich nach der Coronazeit wieder mal auf. Eine Karte für ein Konzert von denen, das wäre es, das wäre super!
Heute wird manchmal so getan, als ob der persönliche Dialekt ein Element der entfalteten Persönlichkeit sei. Ich würde diese Meinung nur begrenzt stützen, denn es gibt Dialekte, die einem den Lebensweg erleichtern wie bayerisch, kölsch oder badisch. Auch Kanzler Kurz spricht einen gnadenlosen Dialekt. Der rheinische Singsang von Karl Lauterbach ist sein Markenzeichen. Norbert „Nobby“ Blüm aus Limburg, der hat sich wegen seines Limburger Dialektes nicht geschämt. „Die Rente ist sicher!“
Nun stelle man sich ein übertrieben perfektes Videos auf Instagram vor, dann kommt das erste Wort, und es enthält ein stark gerolltes mittelhessisches R. Schon ist alles vorbei. Also da möchte ich bezweifeln, dass das heute irgendwelche Vorteile bringt, sei es privat, im Beruf oder in der Politik. Wer so spricht, trägt der seine dörfliche Herkunft definitiv zur Schau.
Ich gehöre dazu, denn Platt ist die erste Sprache meiner Kindheit, die man bis ins Alter von 4 Jahren stabil erwirbt. Deutsch ist somit meine erste Fremdsprache. Da kann man nichts machen. Da hilft auch keine Logopädie, sagt meine Schwester Brigitte.