War das bereits künstliche Intelligenz?
Vor 35 Jahren habe ich die Software „Internist, Computer-Aided Diagnostic Decision-Support“ von Steve North erworben. Serial 4113, V. 2.0 steht auf der Diskette. Die Herstellerfirma hieß bezeichnenderweise N2 N-Squared Computing. Das war eine Bezugnahme auf Wahrscheinlichkeitsrechnung.
Immerhin konnte die Software schon mit 350 Diagnosen umgehen. Als Datenträger reichte damals ein 360 KByte-Diskette 5,25 Zoll aus. Das war möglich durch die komplett fehlende graphische Oberfläche und eine sehr effiziente Programmierung. Lauffähig war sie schon auf einem IBM PC XT mit 128 KByte freiem Hauptspeicher. Nach meiner Einschätzung war sie eines der ersten derartigen Tools für die damalige Hardware abseits von Großrechnern.
Ich fand das damals hochinteressant, bestand doch die Möglichkeit, dass irgendwann die klassische ärztliche Tätigkeit der Diagnosefindung quasi automatisiert erfolgen könnte. So wie der Diagnoseautomat in der Hand des Bordarztes bei „Raumschiff Enterprise“. Wir wissen heute, dass dies so noch nicht möglich ist, oder nur auf sehr basalem medizinischen Niveau. Ich denke an die Schulung und den Einsatz von „Paramedics“ in der Notfall- oder Grundversorgung. Das ist „Schema F“ als Medizin light. Da aber Schwächen in der Diagnostik in unserer westlichen Gesellschaft juristisch nicht verziehen werden, wird hier wohl weiterhin ein Bedarf für menschliche Experten bestehen.
So ein Expertensystem, als ein solches würde ich die damalige Software definitiv bezeichnen, hat sicher einen Stellenwert als supportives System, aber als alleiniges Tool, ja als Arztersatz war es definitig ungeeignet. Eine Diagnosewahrscheinlichkeit von 90 % reicht in der klinischen Situation am realen Patienten leider nicht aus. Im DOS-Emulator DOSBox kann ich das historische Expertensystem noch zum Funktionieren bringen! Kleiner Schauer der Ehrfurcht! Oder kam das gerade durch die Corona-Impfung gestern?
Wir würden so ein Expertensystem als Künstliche Intelligenz in Form einer sogenannte „schwache KI“ ansehen. Ob es heute „starke KI“ überhaupt schon gibt, darüber sind sich die Experten nicht einig. Es gibt zwar viele blumige Begriffe im Hinblick auf künstliche Intelligenz (AI) wie DeepMind AI, Machine Learning, Neuronale Netze, aber meist werden die Arbeitsschritte nicht transparent dargelegt. Als hoch spezialisierte Expertensysteme bei autonomem Fahren, Schrifterkennung, Gesichtserkennung und in der Robotik taugen sie allemal. Spätestens dann, wenn man an die autonomen Waffensysteme denkt, wird es einem allerdings mulmig zumute.
Es gibt heute eine Reihe von medizinischen Softwareprodukten im Sinne von Expertensystemen, zumeist in der Radiologie, aber auch in der Onkologie. Fast alle richten sich aber an Ärzte, an Experten. Als Medizinprodukte müssen sie zertifiziert sein. Eine wesentliche Kritik an ihren Ergebnissen ist, das der Weg der Entscheidungsfindung meist nicht erläutert wird. Das „Warum?“ wird nicht beantwortet, sodass ein trivialer Nebenaspekt zu einer schwerwiegenden Fehlentscheidung führen könnte.
Die Überprüfung im „Real-World-Use“ sollte doch wohl bei Einsatz von künstlicher Intelligenz in der Medizin obligat sein, und daran fehlt es heute noch. Zuallermeist handelt es sich bei den oft euphorischen Publikationen um Resultate von Machbarkeitsstudien. Mehr nicht.