Neues aus der Kategorie: Der Arzt als sein eigener Patient.
Seit der SPRINT-Studie 2015 ist nichts mehr wie es war. Die Leitlinien der großen Fachgesellschaften wurden umgeschrieben. Statt des früher üblichen Therapiezieles von <= 140/90 mm Hg war nun <= 120/80 mm Hg der neue Standard. Und das bei automatischer Messung, teils ohne medizinisches Personal durchgeführt. Ziel war besserer Outcome bezüglich kardiovaskulärer Endpunkte.
Ende August 2021 wurde im NEJM mit STEP eine große chinesische Studie um Zhang vorab publiziert (hinter Paywall). Ich habe deswegen nur noch Zugriff auf das Abstract. Und dieses liest sich erstmal gut. 8511 Personen im Alter zwischen 60 und 80 Jahren wurden eingeschlossen, die Eingangswerte systolisch zwischen 140 und 190 mm Hg hatten. Die Messungen erfolgten durch Studienpersonal, nur begleitend erfolgten auch Selbstmessungen. Aktive relativ akute Erkrankungen führten zum Ausschluss, nicht aber kontrollierter Diabetes.
Zwei Gruppen wurden gebildet, einmal mit intensiver Therapie und dem systolischen Zielwert 110 bis <130 mmHg, in der Kontrollgruppe mit weniger starker Therapie 130 bis <150 mm Hg. Olmesartan war in der Studie das Basisantihypertensivum, bei zu geringem Ansprechen zusätzlich Amlodipin, ggf. HCT und andere Mittel. Damit werden die jeweiligen Zielwerte in beiden Gruppen erstaunlich gut erreicht.
Nach im Mittel 3,3 Jahren erreichen 3,5 % versus 4,6 % der Probanden primäre Endpunkte (gemeint sind Schlaganfall, MI, ACS, Revaskularisation, Hospitalisation, HI, Vorhofflimmern, kardiovaskulärer Tod). Die Gesamtsterblichkeit wird nicht verändert. Somit ergibt sich rechnerisch eine NNT von 91/3,3 Jahre zur Endpunktvermeidung. Das liest sich auf den ersten Blick ganz gut und scheint meine gegenwärtige Praxis bei der Selbsttherapie zu bestätigen.
Aber dann habe ich die ausführliche Stellungnahme im Arzneitelegramm gelesen (auch hinter Paywall). Jetzt bin ich erstmal frustriert. Die Art der Blutdruckmessung sei unterschiedlich und nicht gut vergleichbar. Der systolische Zielwert der Kontrollgruppe sei gemäß SPRINT mit 150 mm Hg zu hoch. Olmesartan als Studienmedikament sei ungeeignet. Ein therapeutischer Nutzen sei für diese Substanz niemals gesichert worden. In STEP seien auch mehr Menschen der Kontrollgruppe alleine mit diesem (unwirksamen?) Medikament behandelt worden.
Zusammenfassend hält das Arznei-Telegramm den neuen Zielwert <130/80 mm Hg nur bei relativ gesunden Patienten für vertretbar, bei denen das Therapieziel recht problemlos erreichbar ist und keine Störwirkungen (Schwindel, Stürze) auftreten.
Sollte diese Studie tatsächlich nach dem Prinzip des Vergleiches von Äpfel mit Birnen durchgeführt worden sein? Also mit dem Vergleich einer Medikation mit einer bekanntermaßen schlechteren, nämlich Olmesartan. Das wäre ein Skandal!
Kommen wir noch mal zum NNT-Wert, der number needed to treat. In der Studie finde ich den Wert von 91 über 3,3 Jahre betrachtet, was nicht gerade viel ist. Das entspricht nämlich 300 pro Jahr betrachtet. 300 Patienten müssten die intensivierte Einstellung für ein Jahr hinnehmen, nur um ein Ereignis zu verhindern. Und die Mortalität bleibt dabei unbeeinflußt! Eigentlich möchte ich das kaum noch als Therapie bezeichnen. M. E. gehört so etwas zum Lifestyle.
Die einfache Zahl „Number needed to treat“ öffnet mir die Augen für den geringen zusätzlichen Nutzen der intensiven Blutdruckeinstellung im Vergleich zum früheren Standard.