The Empire of Pain
Nach einem weiteren Mailkontakt, in dem es wieder um die Begehrlichkeiten der Pharmaindustrie ging, habe ich in den letzten Tagen versucht, mich über die Opiatkrise in den USA schlau zu machen und Spuren davon in Deutschland zu finden. Opiate crisis in Germany?
Zunächst war ich der Ansicht, ich könne schon wegen meiner früheren Erfahrungen mit der „Schmerztherapie“ bzw. bestimmten Schmerztherapeuten im Krankenhaus meinen Blogartikel einfach schnell herunterschreiben. Dann wurden mir allerdings langsam die massiven gesellschaftlichen Implikationen in den USA deutlich.
Es hat mich doch schockiert, als mir klar wurde, dass in den USA in den letzten 20 Jahren mehr als 400.000 Menschen an Opiatvergiftung und somit letztlich in Folge der Opiatkrise gestorben sind. Und das waren zu 90 % Weiße, jüngere Männer häufig, aus abgehängten ländlichen Regionen, keine primären Junkies, so wie wir die uns vorstellen. In dieser gesellschaftlichen Gruppe ist der Begriff Schmerz quasi ein Synonym für Leid, Elend, Not, Arbeitslosigkeit und Hoffnungslosigkeit.
Ein typisch amerikanischer Reflex ist es allerdings, sofort die Schuld bei den Betroffenen zu suchen. Bestrafung statt Hilfe oder Ursachensuche. Nochmal, die Besonderheit ist es, dass es vorwiegend jüngere weiße Männer trifft.
Hauptinitiator der Krise war Purdue Pharma, im Besitz einer enorm reichen und ehrenwerten Familie, den Sacklers. Die haben ein altes Opiat, Oxycodon, mit einer anderen Galenik versehen und seit etwa 1996 mit großem Nachdruck als OxyContin vermarktet. Praktisch alle Experten und die meisten Schmerzärzte haben sie bestochen, wissenschaftliche Veröffentlichungen gefakt und ein Heer von Anwälten bemüht, um jede Kritik zu unterbinden.
Dieses Opiat sei völlig ungefährlich, verursache keine Sucht, es sei auch bei nicht terminal Kranken, also Patienten mit Rückenschmerzen beispielsweise gut geeignet. Als Krönung hat die FDA das Opiat noch 2015 sogar für Kinder ab 12 zugelassen. Gut ein Drittel der erwachsenen Bevölkerung hat nach einer Befragung innerhalb eines Index-Jahres mindestens einmal eine Opiatverschreibung erhalten. Ich kriege die Krise!
OxyContin war letztlich der große Wegbereiter, ja der Türöffner zu Heroin und Fentanyl, die auf illegalem Weg ja weitaus preisgünstiger und einfacher zu erhalten sind. Die uralten gesellschaftlichen Schwellen zur Opiateinnahme überhaupt waren durch die aggressive Marketingkampagne nun weitgehend beseitigt worden. Die perfiden Marketing-Spezialisten von Purdue Pharma haben sogar die Begriffe „Opiatphobie“ und „Pseudoentzug“ geschaffen und in der Community hoffähig gemacht. Sprich Publikationen dazu gefakt und Ärzte manipuliert. Die Bedingungen zu einer Opiatkrise wurden so geschaffen.
Die Sacklers sollen derzeit (vermutlich aus der Portokasse) 12 Milliarden USD Strafe zahlen. Auf andere wie Walmart und mehrere Pharma-Zwischenhändler sollen ebenfalls hohe Strafen zukommen. Selbst McKinsey hat „freiwillig“ 572 Millionen USD Strafe gezahlt, um einer Verurteilung zuvorzukommen. Der gesellschaftliche Gesamtschaden wird auf beispielsweise 2200 Milliarden USD geschätzt.
Vorgestern habe ich zum Thema Opiatkrise einen Film aus der ZDF-Mediathek geschaut: Amerika am Abgrund. Ein weißer Mann um die 50 aus einer abgehängten Kleinstadt berichtet davon, was aus seinen Klassenkameraden geworden ist. Sofern sie überhaupt noch leben. Das ist das andere (weiße) Amerika. Ziemlich beklemmend insgesamt. Opiate crisis in den USA.
Ich habe heute früh einen gut verfassten und spannenden Artikel in der Zeitschrift The New Yorker gelesen. Einfach unfassbar, was da detailliert beschrieben wird. Die Sacklers haben das Geschäft wie ein Mafia-Clan betrieben, die Manipulationen durch Marketing sind unglaublich.
The Family That Built an Empire of Pain. So heißt der Titel, der wie eine Dystopie klingt. Nach außen hat sich die Familie weltweit erfolgreich als Mäzen der Wissenschaft und der schönen Künste inszeniert. Aber das Geld dafür kam aus schmutzigen Geschäften. Mehr als genug Material für einen abendfüllenden Film! Mir läuft es kalt über den Rücken.
Da wird einem klar, dass die Opiatkrise eigentlich eine Gesellschaftskrise der USA ist. So etwas wie soziale Marktwirtschaft kennen die ja nicht. Das Ideal des Starken, der alles alleine schafft, ist gesellschaftliches Dogma. Hört Euch Trump mit seinen Sprüchen an.
Vor dem Hintergrund der Drogenkrise in den USA wurde die deutsche Leitlinie LONTS Langzeitanwendung von Opiaten bei Nicht-Tumorschmerz im Jahre 2020 neugefasst und schärfer formuliert. Opiate haben in der Langzeittherapie bei dieser Indikation nun nur noch das Empfehlungslevel EL2a „offene Empfehlung“. Das bedeutet: Qualität der Evidenz
mäßig. Starke Empfehlung (trotzdem!). So die stark verkürzte Aussage.
In Deutschland soll es gemäß dieser Leitlinie angeblich keine Opiatkrise geben, so auch ein Repräsentant der Schmerzliga. Wollen wir es hoffen, dass Opiate nicht auch hier gegen Depressionen, Elend und soziale Not verabreicht werden, und so die Betroffenen noch tiefer in den Abgrund geführt werden. Deutschland steht aber immerhin auf die Einwohnerzahl gesehen auf Rang zwei oder drei des weltweiten Opiatkonsums. Ich habe deswegen meine Zweifel.
Ob die hiesigen Institutionen wie die Deutsche Gesellschaft für Schmerzmedizin und die Schmerzliga nicht durch und durch korrumpiert sind? Wie wir ja wissen, sind selbst Leitlinien manipulierbar. Ein fader Geschmack bleibt immer übrig, denn eine öffentliche Aufarbeitung der Verquickung der Experten hat es m. W. in Deutschland nicht gegeben. Die Website der Deutschen Gesellschaft für Schmerzmedizin gibt dazu gar nichts her! Eine Art Ehrenerklärung wäre gut für die Glaubwürdigkeit!
Immerhin gibt es in D bekannte Schmerzkliniken, z. B. DRK Mainz, die schon jahrelang das Konzept der multimodalen Schmerztherapie propagieren. Und die ist meist opiatfrei. Opiate crisis – hoffentlich nicht in Deutschland.
Sehr eindrucksvoller Artikel aus dem New Yorker. Danke!
Du hast recht, die aus der Psychosomatik herausgelöste Fachbezeichnung „Schmerztherapie“ ist nichts anderes als Opioid-Marketing.