Die Zeit bei Lebenshilfe Gießen
1971 im Sommer, da begann er. Ich hatte schon zwei Semester Medizin studiert, auch das sogenannte Vorphysikum bereits abgelegt. Dann kam der Einberufungstermin. So war das damals, es gab keine Sonderrechte für einen angehenden Arzt. Als Soldat wäre ich zurückgestellt worden. Heute würde man sagen, dass Wehrdienst und Ersatzdienst auch nicht Gender-konform waren. Aber gerecht wäre völlig anders.
Anfangs war geplant, die Ersatzdienstleistenden möglichst heimatfern und kaserniert unterzubringen, um die Attraktivität des Ersatzdienstes zu vermindern. Das erwies sich allerdings damals als logistisch nicht durchführbar. Der Ersatzdienst hatte schließlich noch keine eigenen administrativen Strukturen. Erst 1973 erfolgte die Gründung des Bundesamtes für den Zivildienst in Köln.
Tatsächlich, ich erhielt die sogenannte Heimschläfer-Erlaubnis. Jedenfalls gab es ein paar Mark mehr beim Sold, auch einen Essenszuschuss. Ich konnte weiterhin zu Hause bei meinen Eltern wohnen. Ob das für meine Entwicklung gut oder schlecht war, möchte ich mal offen lassen.
Meine Dienststelle war die Lebenshilfe für geistig behinderte Menschen in Gießen. Ich habe damals von deren Einrichtungen einen baulich relativ modernen Kindergarten an der Ringallee, eine ersatzweise betriebene Werkstatt für Behinderte in einer ehemaligen Schule (?) in Wieseck und später die neu erbaute beschützende Werkstatt am Erdkauter Weg im Schiffenberger Tal kennengelernt. Ein eigener Fuhrpark gehörte damals zur Lebenshilfe.
Heute betreibt der Verein laut eigener Webseite in Gießen und Umgebung etwa 70 Einrichtungen und Dienste, betreut 3000 behinderte Menschen und beschäftigt etwa 1500 Personen. Das ist damit definitiv keine kleine Einrichtung.
Diese Dienststelle hat man mir von Amts wegen zugeteilt. Es war nicht meine eigene Entscheidung, dorthin zu gehen. Die Aufgaben eines Ersatzdienstleistenden dort kann man kurz so charakterisieren:
- Abholen der Behinderten, auch Kindern, von deren Wohnung als Chauffeur von VW-Bussen der Lebenshilfe.
- Betreuen der Behinderten bei der Gruppen-Beschäftigung mit einfachen manuellen Tätigkeiten, „Arbeit“.
- Teilnahme an den gemeinsam eingenommenen Mahlzeiten.
- Zurückbringen der Behinderten mit den Bussen.
Über weite Strecken waren das die gleichen Tätigkeiten, die auch die hauptamtlichen Mitarbeiter ausführten. Die hatten meiner Erinnerung nach meist eine handwerkliche Vorbildung. An Schlosser, Kraftfahrzeugmechaniker und ehemalige Busfahrer kann ich mich erinnern, wie auch an Kindergärtnerinnen. Ein Herr Röwekamp war zu meiner Zeit Leiter der Werkstatt.
Ob es einen Qualifikationskursus für uns als Laien gegeben hat, weiß ich nicht mehr. Das wäre sicherlich gut gewesen, denn eigentlich ist so eine Tätigkeit am Menschen anspruchsvoll, jedenfalls nicht für alle geeignet. Ich war allerdings durch meine Erfahrungen als Gruppenleiter beim CVJM wenigstens etwas vorbereitet.
Die „Arbeit“ der Behinderten ist mir als recht simpel in Erinnerung geblieben. So bestand eine Aufgabe darin, 4 mm dicke Stahlstifte in runde Plastikkörbe zu pressen, gedacht für den Einsatz bei Rollenlagern. Die seien für das Gaspedal des Leopardpanzers gedacht! Der Spruch ist immerhin bei mir haften geblieben.
Eine ähnlich einfache Tätigkeit war das Zusammenpressen der Hälften von Tragegriffen für Plastiktaschen. Eine weitere stupide Aufgabe war das motorunterstützte Einsetzen von Klemmschrauben in Lüsterklemmen.
Ein hauptamtlicher Mitarbeiter hat sich damals intensiv mit dem Drechseln von Kerzenständern aus Naturholz beschäftigt. Bei deren Weiterverarbeitung gab es gleich mehrere Arbeitsmöglichkeiten für die Behinderten.
Mit Inklusion im heutigen Sinne hatten die meisten dieser Tätigkeiten gar nichts zu tun. Ich fand schon damals, dass es eher um ein Verwahren ging, und dass die meisten solcher Tätigkeiten besser durch Automaten durchgeführt würden. Aber OK, der Tag der behinderten Menschen erhielt so einen Rhythmus. Es gab viele Gruppeneffekte, die sicherlich positiv zu sehen sind.
Insgesamt kann ich somit nicht behaupten, völlig ohne Eigenverantwortlichkeit eingesetzt worden zu sein. Die Tätigkeit als Kraftfahrer und Chauffeur war interessant, Menschen waren uns dabei anvertraut. Ich meine mich erinnern zu können, dass mir einer der Behinderten bei einem Zwischenhalt ausgebüxt ist, dass wir ihn aber bald wiederfinden konnten.
Manche dieser behinderten Menschen haben sich mir offensichtlich eingeprägt. Wenn ich mich in Art einer Imagination in die Situationen hineinversetze, kann ich mich gut an die Menschen erinnern, ihre Situation, wie sie aussahen, wie sie gesprochen haben, wie sie sich bewegten. Ja sogar einige Namen fallen mir wieder ein, Dieter, Gerd, Heidrun, Brunhilde… Auch der Name meines freundlichen Ersatzdienstkollegen ist plötzlich wieder da, J. M. aus Miltenberg. Das menschliche Gedächtnis ist schon erstaunlich!
- Eine kräftige junge Frau sehe ich vor mir, sie ist einen Kopf größer als ihre Mutter, körperlich sehr stark, spastisch, manchmal aggressiv angespannt. Sie hat auch ein Krampfleiden. Bestimmt eine große Herausforderung für ihre Familie.
- Ein großer und schwerer Mittzwanziger steht vor mir, mit Spastik und enormer Körperkraft, gefürchtet wegen seiner Wutausbrüche.
- Ein dünner Trisomie-21-Mann sitzt am Gruppen-Arbeitsplatz im grauen Arbeitskittel, mit hoher Piepestimme, immer etwas ängstlich. Aber super freundlich.
- Ein kleiner dünner junger Mann mit Trisomie 21 möchte mir seine verengte Speiseröhre zeigen. (Ein Onkel hat mir erst vor wenigen Jahren denn Feedback seines Vaters übermittelt. Stramm rechts und dann einen behinderten Sohn…)
- Mehrere Trisomie-21-Frauen sehe ich bei der Arbeit. Alle sind sehr freundlich und oft recht ängstlich. Bützchen untereinander sind an der Tagesordnung.
Insgesamt sind mir die behinderten Menschen in ihrer Situation positiv in Erinnerung geblieben. Ich schätze noch immer ihre große Freundlichkeit, ihre Herzlichkeit, ihre fehlende Hinterlist, als ob sie zu gut für diese Welt seien! Oder war das nur ein Artefakt, ein Ausdruck ihrer Überlebensstrategie, die sie über Jahre erlernt hatten? Gerade mit den Trisomie-21-Menschen werde ich mich noch einmal beschäftigen.
Das gesellschaftliche Umfeld für die „Beschützenden Werkstätten für Menschen mit geistiger Behinderung“ hat sich seitdem durch gesetzliche Veränderungen erheblich gewandelt. Leider soll es aber im Kern gleich geblieben sein. Hier als Einstiegslektüre ein Link zur Website JOBinklusive von Raúl Krauthausen, dem bekannten Aktivisten. Ich glaube, ich kenne mich da nicht wirklich aus. Inklusion statt Integration oder gar Ausgrenzung sollte es eigentlich sein. Auch die 17 Nachhaltigkeitsziele der UNO fallen mir da wieder ein.
Für mich selbst waren das damals nicht einmal 15 Monate Kontakt mit dieser sehr eigenen Welt. Ich habe meinen Urlaub auf das Ende der Dienstzeit gelegt und meine komplette Energie darauf gesetzt, danach mit dem Medizinstudium möglichst zügig fertig zu werden. Das bedeutete einen entschlossenen Kampf mit dem Hessischen Landesprüfungsamt für Heilberufe. Immerhin habe ich dabei zwei Semester herausgeholt und gut ein Jahr unter der Mindeststudienzeit Medizin meinen Abschluss erhalten.
Wenn ich denke, was ich anschließend in mehr als 42 Berufsjahren so erlebt habe, also bei mir und bei anderen, dann kann ich mir schwer vorstellen, dass leistungsschwache Menschen ohne weiteres in einen beruflichen Regelbetrieb im ersten Arbeitsmarkt inkludiert werden können. Selbst ich – als Einser-Schüler, Dr. med., Internist und Gastroenterologe – war zeitweilig heftigem Mobbing ausgesetzt! Teilweise bestanden massive Anfeindungen. Und das, obwohl ich über drei Perioden Mitglied im Betriebsrat war. Der erste Arbeitsmarkt ist eine harte Sache.
Ich denke, über die Inklusion werde ich noch ein anderes Mal schreiben. Die Lebenshilfe Gießen bot damals sicher keine.
Heute am 16.2.2022 in der Zeit gefunden, R. Krauthausen schreibt als Gastautor über die Beschützenden Werkstätten, auch die Kommentare sind interessant!