Gedanken zu Long Covid
Seit drei Jahren gibt es nun COVID-19. In meinem Blog gibt es reichlich Einträge dazu, aber bisher nicht zu Long Covid. Der berühmte Infektiologe A. Fauci hat den Begriff „Long Covid“ schon vor fast 2 Jahren verwandt. E. Hirschhausen als medizinisch gebildeter TV-Moderator zeigte in einer neuerlichen Dokumentation – hier ein Kommentar dazu – vor ein paar Wochen auch einige Menschen, die an CFS/ME (Chronic fatigue syndrom/Myalgic encephalitis) leiden. Er sieht weitgehende Analogien zum Long Covid Syndrom, an dem bis zu 25 % der ehemals Erkrankten oder gar der Geimpften leiden sollen. Long Covid – Droht eine weitere Pandemie? Sind denn alle Ärzte, die diese Begriffe hinterfragen, ungebildet oder zu unsensibel? So war der leicht vorwurfsvolle Tenor der Dokumentation.
Long Covid – Ein funktionelles Geschehen?
Zunächst dachte ich: Das kenne ich doch alles schon! Erkrankungen, die schon aus der Ferne nach einem funktionellen Geschehen aussehen. Mit funktionell ist gemeint, dass die somatischen Ursachen von komplexen Beschwerdebildern im Hintergrund stehen. Als Gastroenterologe war ich schließlich mit dem Krankheitsbild „Reizdarm“ vertraut. Mein ironischer Standard-Kommentar war: Der Darm ist ein Mysterium!
Analogien zum Krankheitsbild Reizdarm
Die Anzahl der möglichen Ursachen dieses häufigen Krankheitsbildes „Reizdarm“ – je nach Strenge der Definition betrifft sie bis zu 25 % der Menschen – ist unüberschaubar hoch. Natürlich verstecken sich auch relevante somatische Erkrankungen unter diesem Label. Bei nicht wenigen Patienten findet man allerdings Übergänge zu Somatisierungsstörungen, da auch andere Organsysteme einbezogen sind. Verschiedene psychische Phänomene werden ggf. beobachtet, wie Angststörung und Depression. Harte somatische Diagnosen müssen bei „Reizdarm“ aber per definitionem fehlen. Zufallsbefunde, wie sie bei der zugehörigen Durchuntersuchung immer anfallen, wollen dann aber eingeordnet und relativiert werden.
Somatisierung
Bei einer Somatisierungsstörung zeigen die vielfachen Körpersymptome oft eine Tendenz zur Generalisierung. Letztlich stellt sich schnell die Frage nach der Bedeutung, also der Sinnhaftigkeit der Symptome. Diese sollen vermutlich etwas ausdrücken, auf frühere oder aktuelle seelische Belastungen zeigen, eine Entlastung von Schuldgefühlen ermöglichen, das eigene Versagen verdecken und so weiter. Der Körper spricht, wenn der Mensch keine sonstige Ausdrucksmöglichkeit findet. Das war die psychosomatische Sicht der Dinge. So habe ich das gelernt, gerade auch von Prof. Dr. W. H. Krause, meinem Doktorvater. Ist aber die generelle Psychologisierung von Symptomen zulässig?
Persönliche Anmerkungen
In meinem Leben habe ich derartige Situationen im privaten Umfeld erlebt. Betroffene tolerieren nach meiner begrenzten Erfahrung den Gedanken nicht, es könne eine psychische Mitverursachung der zahlreichen Beschwerden vorliegen. Sie reagieren darauf extrem vorwurfsvoll und intolerant zu ihrer Umgebung. Ich fühlte mich damals extrem überfordert. Ein im privaten Umfeld hilfloser Helfer. Beinahe hätte mir das den Zugang zum erlernten, guten Beruf genommen. Diese Zeit ist zum Glück vorbei.
Long Covid – Was ist das?
Ich habe viel nachgelesen zum „Long Covid Syndrom“. Das Thema ist schließlich schon eine ganze Weile en vogue. Ja, es gibt schon seit 2021 eine deutsche Leitlinie „Long Covid“. Die lässt aber die Pathophysiologie offen und beschreibt einfach Symptome. Ich verzichte hier mal auf die Feinheiten der Abgrenzung „Post Covid“ versus „Long Covid“, da die Begriffe auch in der internationalen Literatur nicht einheitlich benutzt werden. Ich verstehe unter „Long Covid“ alle Befunde und Symptome, die nach dieser Infektionskrankheit mehrere Wochen oder gar Monate und länger andauern, ganz pragmatisch.
Diese anhaltenden Befunde und Symptome oft analog zu CFS/ME führen bei bis zu 25 % der Betroffenen zu schweren Einschränkungen. Teilweise ist die Aufnahme der Erwerbstätigkeit nicht mehr möglich. Manche der Betroffenen sind kaum noch mobil oder gar bettlägerig. Allgemeine Schwäche, Muskelschmerzen, nicht erholsamer Schlaf und Brain fog treten auf. Die PEM, also „post-exertional malaise“, sei typisch für die Erkrankung. Reha und Training würde eventuell alles noch schlimmer machen. PEM wird aber in den Studien bisher nicht objektiv gemessen, sie ist „self reported“.
Die Einschätzung der Erkrankung CFS/ME ist kontrovers. Der Wikipedia-Eintrag zeigt dies eindrucksvoll. Neben mehreren oft emotionalen Dokumentationen von Erkrankten gibt es reichlich auch fundierte Kritik am Krankheitskonzept.
In der Doku von Hirschhausen wurde auch offen die Suizidalität der Betroffenen mit CFS/ME angesprochen. Da hatte ich sofort wieder ungute Erinnerungen. Appell und Drohung, auch das kannte ich schon.
Verbleibende Fragen zu Long Covid
- Ist denn Long Covid eine einheitliche Erkrankung?
- Oder handelt es sich um eine Sammlung verschiedener Krankheiten?
- Ist CFS/ME nur die extreme Variante von Long Covid?
- Ist CFS/ME eine neuroimmunologische Erkrankung?
- Sind denn bisherige Therapien wie die Immunadsorption oder die HELP Apherese gesichert?
- Wie soll Long Covid in einer coronamüden Gesellschaft Akzeptanz finden?
- Was ist mit den wirtschaftlichen Auswirkungen ?
- Long Covid – Droht wirklich eine neue Pandemie?
Es gibt viel mehr Fragen als Antworten.
So ist meine derzeitige Einschätzung von Long Covid.
In Pubmed habe ich nun mehrere Publikation gefunden zu Long Covid und psychosomatic oder biopsychosocial. Also scheinen sich Autoren nun vorzutrauen. Das Sprechverbot durch Patientenverbände scheint auszuklingen. Selbst die Süddeutsche lässt Psychsomatker zu Wort kommen. Auch die Schwächen der Diagnose CFS/ME dürfen jetzt benannt werden. Also ich finde, egal wie die Ätiologie ist, spielen bei einer derart einschränkenden Erkrankung immer biopsychosoziale Aspekte eine Rolle. Ein rein somatisches Krankheitsmodell wird dem keinesfalls gerecht. Ist doch klar.