Vor einigen Jahren fragte mich eine frühere Geschäftspartnerin, die durch einen großen Griff in die Unternehmenskasse Unmut erzeugt hatte, ob ich ihr vergeben hätte. Ich war kurz etwas irritiert, habe dann schnell geantwortet, dass ich ihr Fehlverhalten nicht vergeben hätte, nein, nein. Ich hätte das im Laufe der Jahre einfach vergessen. Da war sie tatsächlich kurz sprachlos. Im Laufe der Zeit erlebt man immer wieder Konflikte und mutmaßliches Fehlverhalten. Wie soll man damit umgehen: Vergeben – vergessen oder gar akzeptieren?
Konflikte und Fehlverhalten gibt es schließlich überall. Ich denke an Beziehungen zu Freunden und Verwandten. Der Arbeitsplatz mit den KollegInnen war bei mir davon betroffen. Auch meine gescheiterte Ehe passt in das Muster. Aber soll man jedes Mal die schwere Keule schwingen, nur das Schlimmste im Anderen vermuten. Es könnte passieren, dass man bald alleine dasteht.
Meine letzten beiden Wochen waren geprägt von mehreren Erkrankungen und von erheblichen Beziehungskonflikten in der Familie. Diese reichen oft viele Jahre, sogar Jahrzehnte, gar bis in die Kindheit zurück. Meine gescheiterte Ehe hatte den Beginn vor etwa 53 Jahren. Ich war damals 19 Jahre alt. Wie soll man bei einer solchen Flut von Beziehungskonflikten und mutmaßlichem Fehlverhalten anderer umgehen? Wäre es nicht besser, vorsichtig aufeinander zuzugehen? Kann man vergeben, vergessen oder gar andere akzeptieren?
Ich fürchte, wenn ein Konflikt über viele Jahre besteht, ist gar nicht mehr klar, worum es eigentlich geht. Was genau war denn der Auslöser für die Dissonanzen? Viele Konflikte zwischen meinen Familienmitgliedern verstehe ich überhaupt nicht. Ob ihnen die Streitthemen selbst klar sind? Sonnenklar ist mir allerdings, dass jede einzelne Person ein wertvolles Individuum ist. Jede Position hat da Stärken und Schwächen.
Vielleicht wäre wechselseitiger Respekt hilfreich. Mal mehrere Gänge zurückschalten. Wu wei, den Dingen den Raum zur Entfaltung gewähren. Nicht die Suche nach der großen Lösung, der Wahrheit, der Unterwerfung anderer, der Gerechtigkeit nach Jahrzehnten des „schlimmen“ Fehlverhaltens. Man selbst ist schließlich auch ein Element in einem Konflikt, so schräg auch das Verhalten anderer auch wirken mag. Ist das eigene Verhalten wirklich besser?
Als ich nachts am Sterbebett meiner Mutter saß, hatte ich genügend Zeit, über ihre Entwicklung nachzudenken. Sie stammte aus einer engstirnigen, pietistischen Familie, die sich in der Nazizeit schuldig gemacht hatte. Ihre eigene Mutter war eine Spezialistin für Doppelbotschaften gewesen. Nur kein Lob, keine Freundlichkeit, keine emotionale Nähe. Stattdessen Kritik, wo immer es möglich war. Ihr Bruder war dann die größte Prüfung im Leben meiner Mutter.
Mit etwa 60 Jahren war sie in kurzem Abstand zweimal schwerkrank. Sie hat dabei offensichtlich dem Tod ins Auge geschaut. Danach entwickelte sie sich persönlich erstaunlich weiter, hatte schließlich eine unerwartete Größe, eine große Freundlichkeit, ja Verständnis für alle. Für viele Menschen wurde sie zur Bezugsperson und hörte gerne zu. Doppelbotschaften und Kritik waren definitiv vorbei.
Die aktuellen Erkrankungen bei lieben Menschen meiner Umgebung sind mir erneut ein Hinweis darauf, sie so zu nehmen, wie sie sind. Vergeben, das funktioniert nicht. Der Begriff ist auch eher religiös belastet. Vergessen, wenn das so leicht wäre! Ich glaube, übrig bleibt nur, andere zu akzeptieren, so wie sie sind. Natürlich ist auch das eine echte Aufgabe, keine einfache Willensentscheidung.