Das geht jetzt nun seit sehr vielen Jahren so. Es besteht ein gewaltiges Interesse an der Substitution von Vitamin D, aber ist das eventuell nur ein Hype? Neben der Prävention von Rachitis und Osteomalazie soll die gut sein für oder gegen fast alles. Also auch für ein längeres Leben, gegen Knochenbrüche, gegen Krebs, gegen Depression, gegen COVID-19, gegen Diabetes, gegen Lungenentzündung und viel mehr inklusive Demenz und Herzinfarkt.
Eine Art universelles Heilmittel also, historisch vergleichbar mit Vitamin C, Selen, Vitamin E, Aspirin, Omega-3-Fettsäuren zum Beispiel. So wirkt es auch beim Eintrag für Vitamin D bei Wikipedia. Das führte insgesamt dazu, dass die Apotheken zeitweise nicht mehr liefern konnten. Vitamin D – ein Garant für ein besseres Leben also, eine Panazee?
Dabei ist mir bei der Beschäftigung mit der Materie immer noch nicht klar geworden, wie überhaupt die Normalbereiche und die Abstufungen der Mangelzustände zustande kommen, wie die unterschiedlichen Testverfahren zu bewerten sind, was die mehr als 50 Metaboliten bedeuten. Wenn in einer Population bis zu 77 % zu niedrige Werte haben sollen, stimmt nach meinem Verständnis mit dem Normalwert etwas nicht. Gauss’sche Normalverteilung, Glockenkurve und so. Nicht nur die unteren 5 % zu niedrig, wie bei Laborwerten sonst, per definitionem. Bei Vitamin D im Serum scheint der Normalbereich allerdings einem Imperativ zu folgen, und nicht klinischen oder statistischen Aspekten.
Dabei sollte doch klar sein, dass 25-OH-Cholecalciferol die körpereigene Speicherform von Vitamin D ist. Das wird in der Haut unter UV-Einfluss produziert. Cholecalciferol ist zunächst gar nicht biologisch aktiv. In der Leber erfolgt die Umwandlung zu 25-OH-Cholecalciferol. Erst in der Niere entsteht die biologisch aktive Form Calcitriol, also 1,25-Dihydroxycholecalciferol, die eine Halbwertszeit von etwa 4 Stunden hat. Diese Synthese wird von Parathormon stimuliert und vom Fibroblast growth factor (FGF23) gehemmt.
Ein normaler Serumwert für Calcitriol schließt einen schweren Vitamin-D-Mangel weitgehend aus, sofern Parathormon intakt, alkalische Phosphatase und Serum-Calcium2+ normal sind. Ob es überhaupt eine funktionelle Bedeutung hat, wenn nur der Wert für 25-OH-Cholecalciferol erniedrigt ist, konnte ich in der Literatur nicht ergründen – soweit ich sie gelesen habe. Gemeint sind negative allgemeine Effekte bei niedrigen Werten nur der Speicherform. Und darum geht es bei dem gegenwärtigen Hype.
Nun sollen also mehr als die Hälfte der Bevölkerung prophylaktisch Vitamin D schlucken. Die optimale Substitutionsdosis ist nicht einmal wissenschaftlich einheitlich definiert. Die Spanne der Dosierungen reicht von 400 IE bis 2000 IE pro Tag, manchmal auch noch sehr viel höher. Soll man die Prophylaxe mit einer mitunter sehr hohen Loading dose beginnen? Was ist mit den Nebenwirkungen?
Nach einer großen Studie von 2022 aus dem NEJM ist nicht einmal die Frakturreduktion durch die Vitamin-D-Prophylaxe mit 2000 IE/Tag über 5 Jahre gesichert. Krass! Knochengesundheit ist doch der prinzipielle Kernbereich der Vitamin-D-Substitution. Oder nicht?
Ich habe mehrere Jahre 1000 IE pro Tag geschluckt, es aber irgendwann wieder sein lassen, wegen der generellen medikamentösen Polypragmasie im Alter. Deprescribing war doch das Stichwort. Seitdem war 25-OH-Cholecalciferol immer um 20 ng/ml, allerdings Calcitriol bei mehrfachen Kontrollen im Normalbereich. Wie oben erwähnt waren die sonstigen Laborwerte des Calciumstoffwechsels völlig normal. Aktuell habe ich mich vom Hautarzt im Zusammenhang mit der Urtikaria motivieren lassen, Vitamin D aufzudosieren, mit 2 mal 20.000 IE pro Woche über insgesamt zwei Monate. Ob ich die Substitution mit Vitamin D danach weiterführe, und damit möglicherweise nur einem Hype folge?
Mein bisheriges Konzept, nur Calcitriol und einmalig zugehörige Parameter zu bestimmen, ist natürlich nicht leitlinienkonform. Klar. Ich finde das aber logischer, als ungesicherte Normalwerte für Vitamin D zu verwenden, die nur der allgemeinen Medikalisierung Vorschub leisten. Cui bono gilt auch hier.
Nachtrag Hautkrebsrisiko durch UV-Licht
Natürlich verwenden wir heute wegen des Risikos für Hautkrebs, also für Basaliome und Melanome zu Beispiel, großzügig Sonnenschutzcremes mit Lichtschutzfaktor von 50. Unter diesem Aspekt könnte es in der Tat notwendig sein, eine kleine Menge Vitamin D, also z. B. 1000 IE, pro Tag zu sich zu nehmen. Die Datenlage ist leider selbst für diesen logischen Sachverhalt nicht sehr überzeugend.
Für Skeptiker: Vielleicht reicht auch eine sehr vorsichtige risikoadaptierte Sonnenexposition unterhalb der Erythemschwelle auch aus, um genügend Vitamin D für den Winter zu erzeugen.
Heute entdeckt: Eine aktuelle große Publikation von Juni 2024 aus den USA im Stile einer Leitlinie zum Thema Prävention von Krankheiten durch Vitamin D. Vitamin D for the Prevention of Disease: An Endocrine Society Clinical Practice Guideline. Hier wird sogar gegen ein bevölkerungsweites Screening ohne Risikosituation für Vitamin-D-Mangel argumentiert. Nur Risikogruppen sollen empirisch 600 bzw. 800 IE/Tag Vitamin D3 erhalten. Gemeint ist die Altersgruppe 1-18 Jahre und > 75 Jahre, Schwangere und Menschen mit Prädiabetes. Für höhere Dosierungen gäbe es keine Evidenz. Die Normalwerte für Vitamin D3 seien nicht gut definiert. Auch sei die Kausalität zwischen niedrigen Vitamin-D-Werten und Krankheiten nicht belegt. Meine eher skeptischen Aussagen zum Thema werden hierdurch unterstützt.
Es gibt augenscheinlich wirklich einen Hype um Vitamin D. Ich habe in Deutschland keine aktuelle Leitlinie gefunden zur Vitamin-D-Substitution in der Allgemeinbevölkerung. Dafür hat mich ein Protagonist (kein Arzt) der bevölkerungsweiten Substitution von Vitamin D angemailt und mir seinen langatmigen und unstrukturierten Literatur-Thread zur Verfügung gestellt. So soll Vitamin D verlässlich gegen Coronavirus helfen. Das stimmt nun aber wirklich nicht. Es hat mit dieser Intention sogar eine Petition beim Bundestag gegeben. Ganz schön schräg. Ich habe ihm eine allgemeine und freundliche Mail mit der Empfehlung geschickt, doch besser die Kriterien der evidenzbasierten Medizin anzuwenden. Mit Dr. Google kann man schließlich alles begründen oder widerlegen.