Endlich
Ende Juli 2024 war es endlich so weit, nämlich der Besuch der Völklinger Hütte. Immerhin war ich von 1979 bis 1985 in Völklingen am Krankenhaus St. Michael als Assistenzarzt tätig. Im gleichen Zeitraum habe ich in Saarbrücken gewohnt. Der Hütte habe ich damals fast keinen Blick gegönnt, ebenso wenig der eigentlich reizvollen Umgebung, dem Warndt beispielsweise. Es war ja auch die High-Speed-Phase meines Lebens, da meine Söhne geboren wurden und meine Berufstätigkeit begann. Keine Zeit damals für das Drumherum oder gar die Geschichte der Region. Im Sommer 2024 unternehmen wir erstmals eine Urlaubsreise durch das Saarland.
1986: Die Hütte wird geschlossen.
Ein Jahr nach meinem Wegzug aus dem Saarland bereits wurde das traditionsreiche Hüttenwerk in Völklingen geschlossen. Natürlich waren davon nicht alle regionalen Produktionsstätten der Eisen- und Stahlverarbeitung betroffen, dennoch war die Schließung ein einschneidendes Ereignis für die Bürger von Völklingen und seiner Umgebung. Ein Walk durch das Stadtzentrum von Völklingen lässt das noch heute beinahe schmerzhaft spüren. Ein markantes klassizistisches Rathaus, das Globus Einkaufszentrum, und das war es auch schon beinahe. Einladend oder beeindruckend geht anders. Die Tafel bei der Diakonie in Völklingen hat ein Schild an der Tür hängen, dass man keine neuen Personen mehr aufnähme.
Erster Eindruck der Hütte
Doch nun zum Besuch der Völklinger Hütte. Wir gehen vom Rathaus aus in Richtung Bahnhof, dann unter den Bahngleisen durch. Am Kreisverkehr sehen wir das Monstrum vor uns, die Straße führt vom Kreisverkehr aus mitten hindurch. Über uns eine Ansammlung von rostfarbenen Rohren, die zur fußballfeldgroßen Gebläsehalle führen. Links dahinter ragt der imposante Wasserspeicher auf. Dahinter liegt ein ungewöhnlich großer Parkplatz. Aber rechts von uns erstreckt sich das eigentliche Hüttenwerk mit den sechs Hochöfen, den vielen Winderhitzern, einem Gewirr von großkalibrigen Rohren und zahlreichen Nebengebäuden.
Kurzum, alleine die Ansicht der inzwischen historischen Industrieanlage erschlägt den Betrachter geradezu, wie der Anblick eines Barockschlosses, einer großen Burgruine, wie eine beeindruckende Stadtansicht oder ein Naturwunder. Man mag kaum glauben, dass die Anlage bereits vor fast 40 Jahren außer Betrieb ging und jetzt keinerlei giftige Gase oder rötlichen Staub mehr abgibt, dass alles erkaltet ist. Als ob hier die Zeit stehen geblieben wäre. Als damals eine Phase des Kohlebergbaues und der Eisen- und Stahlerzeugung in der Region endete. Hier gibt es weitere detaillierte Informationen.
Start in der Gebläsehalle
Wir gehen vom Parkplatz entlang der Straße am Wasserspeicher vorbei zum Eingang der Gebläsehalle. An der Kasse brauchen wir nicht verweilen, wir haben ja gestern Zweitageskarten erworben. Die schmale Treppe zwischen den massiven Fundamenten führt uns in das erste Obergeschoss der Gebläsehalle, das aktuell für die Ausstellung „Der Deutsche Film“ genutzt wird. Hier sind noch etliche große Gaskraftmaschinen als ehemalige Antriebe der Kompressoren erhalten. Sie speisten über große Rohrsysteme andere Teile der Hütte, denn erhitzte Druckluft war unerlässlich als Oxidationsmittel bei der Eisenerzeugung in den Hochöfen. Das Gichtgas der Hochöfen diente nach Reinigung dem Antrieb der Motoren und für Heizzwecke. Es enthielt u. a. Kohlendioxid, zusätzlich Kohlenmonoxid und Wasserstoff als brennbare Gase. Gichtgas war also wirklich giftig und gefährlich.
Sinteranlage und Möllerhalle
Wir lassen die heutige Ausstellungshalle über eine nächste schmale Treppe hinter uns und gehen entlang des Rohrsystems über eine Brücke auf die andere Straßenseite. So gelangen wir zur Sinteranlage, die in einem großen quaderförmigen Industriegebäude in mehreren Etagen untergebracht ist. Das Mischgut wurde hier unter hoher Temperatur geschmolzen und homogenisiert, um es für die Bestückung der Hochöfen tauglich zu machen. Die Anlage diente der Effizienzverbesserung des Produktionsprozesses. Die Arbeitsbedingungen hier kann man heute nur noch erahnen. Direkte Lebensgefahr, hohe Temperaturen, Staub und Lärm müssen unerträglich gewesen sein. Zwischen den Maschinen befindet sich eine Wechselausstellung der modernen Kunst. Beeindruckender finde ich das Denkmal für die vielen Zwangsarbeiter im unteren Teil.
Von dort gehen wir weiter zur Möllerhalle, die als Lager für Erze, Sintermaterial, Kalkstein, Sand und andere Zusätze diente. Nach Mischung erfolgte die Bestückung der Hängeloren des Schrägaufzuges zur Gicht, der 100 Meter langen Arbeitsfläche in Höhe der Beschickungsebene der sechs Hochöfen. Ein unglaublicher Lärm muss auch hier geherrscht haben. Heute bietet die Halle viel Platz für Ausstellungen.
Hinauf zur Beschickungsebene
Wir verlassen die Halle und gehen nach Zufuhr eines Getränkes und weiteren Kohlenhydraten zum Treppenaufgang zur Gichtebene in 27 Metern Höhe. Am Anfang dachte ich, ich schaffe das nicht. Aber auf dem luftigen Weg hinauf hat sich meine vorgebliche Höhenangst fast vollkommen verflüchtigt. Wir gehen zu den großen Verschlussdeckeln der Hochöfen, die angehoben werden konnten. Hier mussten die Arbeiter unter Lebensgefahr den Inhalt der Loren einfüllen. Eine Ebene tiefer fingen jeweils vier Rohrsysteme das heiße und giftige Gichtgas auf. Zur Kühlung lief ständig Wasser an der Außenseite der Hochöfen hinab.
Abstichebene
Nach vielen Fotos gehen wir über ein Treppensystem zwischen den Hochöfen wieder nach unten. Hier stehen wir direkt an der ehemaligen Abstichebene. In mehrstündigen Intervallen erfolgte ein Teilablassen des flüssigen Inhaltes. Über ein einfaches Abscheidesystem auf dem Boden floss hell glühendes Eisen direkt in die darunter stehenden Transportwagen, um das Material zur Weiterverarbeitung in das benachbarte Walzwerk zu bringen. Die Schlacke gelangte zu den beiden heute noch sichtbaren Schlackebergen, genannt Herrmann und Dorothea. Etwas oberhalb der Abstichöffnungen erfolgte die Druckinjektion von 1000 °C Heißluft in die Hochöfen, als Oxidationsmittel und für die Koksverbrennung. Ein Hochofen ähnelt im unteren Bereich etwas der Triebwerksansicht einer großen Rakete. Finde ich.
Leitstand und Filterhalle
Wir sind kurz froh, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben und gehen zur Filterhalle, in der die Aufbereitung des Gichtgases erfolgte, ein wichtiger Energieträger für die Hütte. Ein neu erbauter Aufzug bringt uns hinauf zum ehemaligen Leitstand der Hochofenanlage und in die große Filterhalle. Hier konnte das wertvolle Gichtgas nach Abkühlung entstaubt werden. Denn der Staub enthielt noch wertvolles eisenhaltiges Material, das in der Sinteranlage weiterverwendet wurde. Nebenan steht noch die alte Kraftwerkshalle, die aber nicht besichtigt werden kann.
Kokerei
Trotz leichten Nieselregens statten wir noch der alten Kokerei einen Besuch ab. Koks als Kohle-Zwischenprodukt wurde für den Verhüttungsprozess benötigt. Über einen weiteren Schrägaufzug gelangte der Koks auf die Beschickungsebene der Hochöfen. Anfallendes Koksgas diente als vielfach verwendbare Energiequelle, z. B. in Form von Stadtgas. Weitere Produkte waren u. a. Steinkohlenteer, sodass sich eine ganze nachfolgende Chemie anschloss. Die entsprechenden alten Industriegebäude stehen heute noch neben dem Parkplatz. Da sich die Natur die weitläufigen Anlagen zurückholt, ist kaum noch zu erkennen, dass die Kokerei einer der gefährlichsten Arbeitsplätze der gesamten Hütte war.
Im Paradies
Ein Spazierweg führt heute um den westlichen Teil der Kokerei herum. Das Gelände hier trägt euphemistisch den Namen „Paradies“. Eine überlebensgroße King-Kong-Figur lenkt von der sicher noch vorhandenen Umweltverschmutzung durch Teerprodukte ab. Die Betonruinen hier zeugen von der damaligen Weiterverarbeitung.
Ende der langen Besichtigung
Der weitere Weg durch die Handwerkergasse bringt uns zur Möllerhalle zurück. Durch die Sinterhalle gehen wir den Weg bis zum Eingangsbereich der Gebläsehalle zurück. Ein echtes Wegweisersystem konnten wir nicht entdecken, es wäre sicher hilfreich. Wir haben deutlich mehr als drei Stunden für die Tour benötigt, ohne dass wir alles gesehen oder gar fotografiert hätten. Übersichtliche Außenaufnahmen sind sowieso ohne Drohneneinsatz kaum möglich. Beeindruckend war der Besuch der Völklinger Hütte dennoch, da die meisten Gebäude und Anlagen noch vorhanden sind. Die Besonderheit ist, dass die Gesamtanlage auf ihre Art so wirkt, als befände sie sich in einem Dornröschenschlaf.
P. s.: Ich habe mehr meine subjektiven Eindrücke bei der Besichtigung beschrieben. Wer die Historie der Völklinger Hütte genau kennenlernen oder gar die Hütten-Technologie verstehen will, wird auf die entsprechenden Webseiten verwiesen. Die militärische Bedeutung war riesig. Alleine hierüber und die Verstrickung von Herrmann Röchling im Dritten Reich könnte man sehr viel schreiben. Vielleicht statten wir dem Landschaftspark Duisburg Nord oder der Zeche Zollverein in Essen mal einen Besuch ab. Hattingen kennen wir schon, Buderus und Röchling in Wetzlar habe ich als Schüler besucht und noch in Betrieb erlebt.