Vor einigen Wochen kam die freundliche Information und Einladung. Es ging um eine Veranstaltung Ausdruckstanz der Volkshochschule Remscheid als neue Erfahrung. Der Leiter ist ein lokal bekannter, engagierter Musiker und Lehrer aus Wuppertal. Ich bin gespannt darauf, wie wir wegen der vielen Jahre Tanzerfahrung in Tango argentino und Standard- und Lateintanz damit zurechtkommen.
Vor vielen Jahren war ich schon einmal Teilnehmer an einem solchen Wochenendworkshop, der damals von der Tanzpädagogin G. Lambeck geleitet wurde. Das war für mich eine ungewohnte Veranstaltung. Wir durften zum Beispiel Regen vertanzen. Seit der berühmten Pina Bausch ist Wuppertal bekanntermaßen ein wichtiger Ort für das Tanztheater, auch international gesehen. Die vielen Begriffe Ausdruckstanz, Tanzimprovisation, Tanztheater, Modern Dance und sogar „German Dance“ kann man oft nicht besonders trennscharf auseinanderhalten. Darum geht mir hier auch gar nicht.
Es ist Samstag, und der Weg zum großen Saal der VHS in der Alleestraße in Remscheid ist etwas schwer zu finden. Doch der Leiter hat uns vom Fenster gesehen und öffnet selbst die Türe. Es sind bereits einige Tanzwillige anwesend, sodass etwas Zeit zum Smalltalk bleibt. Der große Saal misst etwa 20 mal 10 Meter und hat einen glatten Kunststoffboden. Er ist wegen einer langen Fensterfront zur Alleestraße recht hell.
Es sind mit mir 12 Teilnehmer, ich bin der einzige Mann, außer dem Lehrer. Damit hatte ich schon gerechnet. Die Vorstellungsrunde im Stuhlkreis ist nicht besonders ergiebig. Das Alter der TeilnehmerInnen reicht von 25 bis über 70. Unser Lehrer schildert kurz die Geschichte des Ausdruckstanzes als Gegenbewegung zum klassischen Ballett mit Spitzentanz und Tutu. Etwa in den Zwanzigern des 20. Jahrhunderts kam er auf, die Bewegungen sollten möglichst natürlich sein.
Fünf Grundpositionen sind für uns heute die Basis: Liegend flach, die Hocke evtl. auf ein Knie abgestützt, tiefes Stehen, normales Stehen, Zehenstand und Arme nach oben. Natürlich kämen bei Fortgeschrittenen weitere Positionen hinzu.
Wir gehen zunächst wild durch den Raum, ohne zu kollidieren, zuerst ohne Anschauen, dann mit Anschauen. Wir schauen uns jeweils bei Begegnungen an, verweilen 2 Sekunden, gehen in einer anderen Richtung weiter. Es folgen weitere solcher Übungen zur Interaktion, entweder für alle, oder für auch eine Person. Mit Berühren der Schulter. Dann gehen wir alle mit variabler Geschwindigkeit, zunehmend und abnehmend, aber immer als Gruppe. Das Ziel bei diesen Übungen ist, dass die Gruppe ein Schwarmverhalten erlernt. Zu spüren, wie sich die Mehrzahl bewegt.
Dazu die nächste Übung. Alle gehen wild durcheinander, dann beginnt einer jeweils in der Phrasierung von 8 Taktschlägen zu einer langsamen Tangomusik mit akzentuierten, vordefinierten Bewegungen: Arme nach vorne, Arme zur Seite, Arme nach oben, Arme am Körper nach unten. Alle erkennen diese markanten Bewegungen, nehmen sie auf und passen sich an, Gehen im Kreis, wie ein Schwarm.
Hier eine weitere Übung: Zunehmend lautes und wieder abnehmend leises Sprechen einer willkürlichen Zahl zum Gehen vorwärts und wieder zurück.
Dann eine Übung, um die Annäherung einer Person von hinten ohne Schauen wahrzunehmen. Alle sitzen in einer Linie mit Blickrichtung zur Wand, einer geht in den Raum und kehrt um, geht auf eine Person zu, ohne dass diese ihn sehen kann. Was soll ich sagen, ich bin bei dieser Übung nicht besonders gut. Habe ja hinten keine Augen, meine Turnhose raschelt auch ziemlich.
Dann eine typische Gruppenübung, bei der es um Vertrauen und Wir-Gefühl geht. Einer steht jeweils in der Mitte, lässt sich bei geschlossenen Augen in eine beliebige Richtung mit gestrecktem Körper kippen. Die 11 im engen Kreis stehenden Teilnehmer schubsen ihn sicher und energisch wieder zurück, woraufhin der Proband in eine neue Richtung kippt. Erst beim zweiten Anlauf schaffe ich das, mich mit geschlossenen Augen fallen und auffangen zu lassen.
Als nächste Übung folgt die symbolische Simulation von 3 Bäumen. Zunächst spielen wir am Boden die Wurzeln, dann halbhoch die Äste, zuletzt aufrecht den Stamm mit den Blättern. Im Prinzip kommen hierbei die 5 Positionen wieder vor.
Die nächste Gruppenübung lässt jeweils vier Personen den jahreszeitlichen Rhythmus in Gestalt von drei Bäumen nachbilden. Ruhen der Wurzeln im Winter, Austreiben der Äste, die Stammbildung mit den Blättern und Blüten/Früchten, dann die zunehmende Rückbildung, also der Übergang zu Herbst und Winter. Diesen Zyklus praktizieren wir ein zweites Mal.
Bei der letzten Gruppenübung bilden wir alle zwölf einen großen Baum. Die Wurzeln werden zu Ästen und auch zum Stamm, ja zu Blättern. Die Zuordnung ist nun ständig im Fluss. Jeder ist mal Wurzel, Ast, Stamm oder Blätter. Leider gibt es davon kein Gruppenfoto. Das wäre bestimmt lustig gewesen.
Es bleibt festzuhalten, dass das nur ein Teil der Übungen war. Insgesamt fühlte ich zuletzt die Gruppenzugehörigkeit viel deutlicher. Vor der Veranstaltung hätte ich vermutet, dass es bei Ausdruckstanz eher um eine Art Battle geht. Jeder vertanzt das, was aus ihm selbst kommt, er generiert seinen Beitrag Ausdruckstanz alleine. Das war aber definitiv anders, es ging um eine Gruppenerfahrung, um Erspüren, Aufgreifen, Anpassung, um ein Schwarmverhalten. Die Performance geschieht in der Gruppe, im Team. Und das bei nicht dominanten Vorschlägen des Leiters mit wechselnden Führungsverhalten in der Gruppe.
Bleibt die spannende Frage, ob die spontane Ausführung in der Gruppe letztlich doch wieder nur wie auch sonst üblich von einzelnen Alpha-Charakteren bestimmt wird. Bei mir entstand zeitweilig der Eindruck, dass es auch bei uns so war. Dennoch, Ausdruckstanz als neue und andere Erfahrung der Interaktion in einer Gruppe, das war schon eine gute Sache auch für uns.