Mit der Überschrift des Artikels habe ich mir etwas schwergetan. Was haben Enzyklopädien mit der Antike, mit dem altehrwürdigen Kloster Corvey und der erst 24 Jahre alten Wikipedia zu tun? Wir werden sehen. Wo doch die Wikipedia gerade von Musk attackiert wird.
Unser Urlaub in Bad Westernkotten im Dezember 24 beinhaltet einen Ausflug nach Paderborn. Mit den Öffis sind wir in knapp einer Stunde dort. Vom Bahnhof aus geht es zu Fuß in Richtung Osten, zur Innenstadt, zum Weihnachtsmarkt. Dessen große Glühweinpyramide steht vor dem imposanten Diözesanmuseum, das seinerseits den Blick auf den Dom verdeckt.
Wir steuern direkt durch das Getümmel auf den Eingang des Museums zu. Uns interessiert die Sonderausstellung „Corvey und das Erbe der Antike“. Die Kuratorin hat viele Exponate aus Europa und den USA zusammengestellt. Die Begleitbroschüre sollte eigentlich auf Latein verfasst sein, so ein zutreffender Scherz von Christa. Da muss selbst der strenge Herr an der Kasse lächeln.
Natürlich hat das Museum nicht die Abtei Corvey nach Paderborn gebracht, aber immerhin wesentliche, noch erhaltene Zeugnisse, meist alte Schriften mit irgendeiner Verbindung dazu. Aber auch Reliquien, Reliquare, Schmuck, Gewänder und Funde von Alltagsgegenständen. Es geht dem Bistum offensichtlich darum, über die Bezugnahme auf Corvey einen Bogen von den Philosophen und Denkern der Antike über die Kirchenväter, die Großen des Heiligen römischen Reiches, die Klosterschulen und das Mittelalter bis heute zu spannen.
Das ist offensichtlich gut gelungen. Die ältesten Schriften stammen aus dem 5. Jahrhundert. Also noch einmal 200 Jahre älter als die in der Stadtbibliothek in Trier. Alle diese Bücher wurden in den Scriptorien der Kirche bzw. der Klöster verfasst. Diese waren, wenn man so will, für das Speichern und Replizieren der ganz alten Schriften, auch aus der vorchristlichen Zeit zuständig. Natürlich flossen beim Kopieren auch Ideen der Schreiber mit ein. So wurden Teile der griechischen Mythologie mit christlicher Symbolik versehen bzw. umgedeutet. Es hat sich also, wenigstens zum Teil, nicht nur um eine anstrengende Schreibtätigkeit mit Tinte und Federkiel bei schlechtem Licht gehandelt. Die Umgestaltung gehörte mit dazu. Auch gab es oft Randnotizen oder Erläuterungen, gar Übersetzungen.
Die gemeinsame Sprache all dieser Dokumente ist zumeist Latein, bei wenigen auch Griechisch. Über die spanischen Klöster haben auch wenige alte Dokumente, ursprünglich in arabischer Sprache abgefasst, aus früher griechischer Zeit den Weg in die europäischen Schriftdokumente gefunden. Da bleibt noch viel Platz für die historische Forschung.
Doch die alten Dokumente nehmen leider fast keinen Bezug auf die örtlichen Sprachen. In Corvey wäre das vermutlich aus heutiger Sicht das Ostwestfälisch gewesen. Oder wie auch immer der frühere lokale germanische Dialekt gelautet haben mag. In der obersten Etage des Museums gibt es dazu ein Gedicht in örtlicher Sprache zu sehen und auch zu hören. Schade, dass Deutsch ursprünglich keine Schriftsprache war. Zusatz von mir: Ein Originalgedicht in mittelhessischer Mundart aus der Zeit von Kaiser Augustus zu finden, das wäre es gewesen.
Im Museum ist mir eine Wandaufschrift aufgefallen: „Eine Malerei ist ein Bild, das den Geist zur Erinnerung zurückführt… Es ist nämlich ein erfundenes Bild, nicht die Wahrheit…“ So hat es Isidor von Sevilla gest. 636 in Etymologiae Buch XIX, Kapitel 16 niedergeschrieben. Etymologiae ist ein 20-bändiges Werk, eine Enzyklopädie, das bis weit über das Mittelalter hinaus Maßstäbe gesetzt hat. Er hat das damalige Wissen der westlich-grichisch-römischen Welt zusammengetragen. Es wurde über 1000 Jahre immer wieder (in Scriptorien, also meist in Klöstern) abgeschrieben und zuletzt auch gedruckt. Im Gegensatz zu heute stand sie nur der gebildeten Oberschicht zur Verfügung.
Ein Vorläufer der Etymologiae war die Naturalis Historia von Gaius Plinius Secundus Major etwa aus dem Jahr 79. In der Ausstellung wird unter VII.04 eine Abschrift aus dem 5. Jh. gezeigt. Diese ist als Pergament im Benediktinerstift St. Paul in Lavanttal erhalten geblieben. Auch diese umfangreiche Enzyklopädie ist über viele Jahrhunderte verwandt worden. Sie diente offensichtlich Isidor als Vorlage und Vorbild.
Natürlich gibt es solche geschriebenen Enzyklopädien in anderen Kulturkreisen und aus anderen Zeitepochen, manchmal noch früher oder viel später verfasst. Wir kennen heute noch die Encyclopædia Britannica oder den Brockhaus, die früher die Bücherregale füllten.
Seit 2001 gibt es über einige Zwischenschritte die elektronische Wikipedia in deutscher Sprache, die derzeit 2.974.795 Artikel enthält. Zusätzlich gibt es sie in den vielen Sprachen der Welt. In den letzten 4 Wochen hatte die Wikipedia in Deutschland etwa 1 Milliarde Seitenabrufe. In der Liste der beliebtesten Websites weltweit steht die Wikipedia auf Platz vier. Ich schreibe das, um die Bedeutung der Institution Wikipedia zu unterstreichen. Kein Wunder, dass Musk sie angreift. Aus meiner Sicht steht die Wikipedia letztlich in der Tradition der großen Enzyklopädien. Sie stellt das aktuelle Wissen umfassend in moderner Form dar. Sie ist dabei aber nicht derart elitär wie die historischen Vorläufer, die nicht der Allgemeinheit zur Verfügung standen.
Damit ist der Bogen noch weiter gespannt als in Paderborn: Enzyklopädien als Vorbilder der Wikipedia reichen zurück bis in die Antike, das Kloster Corvey war ein Zwischenschritt. Das ist eine Botschaft, die wir in der Ausstellung in Paderborn mitgenommen haben. Wissen und Wissenschaft für alle!