Es gab sie einmal, die Regeln für einen guten Arztbrief! Ich war schließlich früher ein dynamischer Oberarzt, der es nicht leiden konnte, wenn die zu übermittelnden Informationen lasch präsentiert wurden.
Ich habe so ein müdes Dokument dann gerne mit den Worten kommentiert: „Stellen Sie sich doch bitte vor, Sie sprächen mit dem Kollegen/der Kollegin, nehmen Sie gedanklich die andere Position ein. Was für Handlungsempfehlungen würden Sie selbst daraus ableiten?“ Und bitte den Beginn des Arztbriefes mit der korrekten Anrede versehen, das Genus sollte stimmen: „Liebe Frau Kollege / Lieber Herr Kollege“ Alternativ die distanziertere Form: „Sehr geehrter Herr Kollege / Sehr geehrte Frau Kollegin“ Einer meiner früheren Chefs legte ggf. Wert auf die Formulierung: „Sehr verehrte Frau Kollegin“ Aber das finde ich schon wieder albern, ein heute überspitzt und altmodisch wirkender Versuch der Gendersprache. Deren Anliegen wird damit ins Gegenteil verkehrt. Und den Namen der Kollegin/des Kollegen sollte man richtig schreiben. Das war die Regel Nummer zwei des Arztbriefes. Die Anrede muss stimmen. Ist doch klar.
Zurück zum Titel. Ein ganz schwacher Arztbrief klingt so, als ob er mit der Anrede: „Liebes Diktiergerät“ abgefasst sei. Also für die Akten, oder auch für sich selbst, oder niemanden, den Papierkorb. Schade darum.
Doch was erzähle ich da dauernd von meinem Beruf! Das ist doch vorbei.
Nach dem Tode meines Vaters habe ich vor nun gut 25 Jahren meiner Mutter ein einfaches Diktiergerät geschenkt. Es handelte sich um eine spezialisierte Variante des Walkmans der Firma Sony. Beim Überreichen habe ich damals die Bitte geäußert, ob sie nicht ihre Erinnerungen an frühere Zeiten festhalten könne. Also das war ein ganz schön schwieriges Anliegen für Sie. Und ich verlangte von ihr etwas, was selbst junge Ärzte meist nicht hinkriegen. Nämlich einen Inhalt für andere verständlich zu schildern.
Vor einigen Tagen fiel mir das Gerät wieder ein, es lag noch im Regal im Arbeitszimmer versteckt. Leider waren die Batterien ausgelaufen, sie steckten sogar fest. Erst gestern habe ich sie mit Werkzeug entfernt, wie auch die auskristallisierten Reste der Elektrolytflüssigkeit. Die war aber kaum auf die Platine übergetreten, sodass die Chance bestand, sie reaktivieren zu können. Einfaches Einlegen von AA-Batterien brachte noch nicht den gewünschten Erfolg. Fünf weitere Kassettendecks in meinem Haushalt waren nicht zum Funktionieren zu bewegen. Was nun?
Mit einem Steckernetzteil mit diversen Adaptern und unter vorsichtiger Anwendung von Kontaktspray war es schließlich möglich, das Gerät wieder zum Funktionieren zu bewegen. Es war tief berührend, die Stimme meiner verstorbenen Mutter zu hören, so als säße sie da, und würde wie früher eine Geschichte aus der Familie erzählen. Denn das war ihre Welt, wie die Mitglieder der Familie sich verhalten hatten, ihr Schicksal, auch im Dritten Reich, Not und Elend, aber auch Gutes, Mitmenschliches. Die Erinnerung wach zu halten, die Personen aus der großen Familie zu erinnern, aber auch wirklich alle, das war es für sie. Dann war sie in ihrem ureigensten Element.
Ich hatte damals, meine Mutter war nur ein Jahr älter als ich jetzt, die Vorstellung, das Familienerbstück der Erinnerung sei auf dem Wege, verloren zu gehen. Das konnte ich doch nicht zulassen. Denn aus der Geschichte lernen wir, wer wir wirklich sind.
Ich habe hier knapp zwei Minuten ihrer Einleitung als MP3-File eingefügt. Das sollte öffentlich reichen. Insgesamt gibt es 58 Minuten Erzählung von ihr selbst.
Aber hören Sie doch mal selbst, wie sie aus ihrer frühen Kindheit freundlich erzählt, wie sie mit dem Laufställchen die Treppe im Hause Landschreibergasse 2 in Atzbach heruntergestürzt sei und sich verletzt habe, wie sie beinahe im Waschzuber ertrunken sei. Der zufällig vorbei kommende Pfarrer habe sie gerade noch aus dem Bottich retten können, sonst wäre sie gestorben, sie lacht kurz darüber. Und der Pfarrer habe am Sonntag in der Kirche davon erzählt… Auch das passt.
Danke, liebes Diktiergerät!
Hey wie schön Ali 🙂 Will den Rest hören!