Es war das Jahr 2014, und ich steuerte geradewegs auf die Rente zu. Da erlebt man merkwürdige Gefühle. Das gilt auch und gerade für den Arbeitsplatz. Immerhin war ich da jetzt schon fast 29 Jahre beschäftigt. Man hat das Gefühl, alles, aber auch wirklich alles schon mindestens einmal erlebt zu haben. Gemeint sind damit unter anderem bisher acht wechselnde Phasen von Chefs der Abteilung. Stellen Sie sich das doch mal vor: 8 Phasen von fünf Personen. Und ich immer der Gleiche. Ein neuer Chef als neunte Phase stand vor der Tür. Das ist nichts für schwache Nerven, sage ich Ihnen/Euch.
Um das ertragen zu können, braucht es innere Ruhe, engelsgleiche Geduld und ausgleichende Aktivitäten. Man muss auch ordentlich was wegstecken können, wie unberechtigte Kritik, Anfeindungen, Rivalität und Mobbing. Dabei darf man aber niemals schwach sein, denn das wäre ein fatales Zeichen. Die Maßstäbe, die man sich setzt, müssen somit komplett von innen kommen. Wer da mit Anerkennung von außen liebäugelt, hat schon verloren. Die ironische Bedeutung der Steigerungsformen Freund – Feind – Kollege wird einem spätestens hier klar.
Es ist schließlich auch nötig, die zeitliche, fachliche und menschliche Begrenztheit von Chefärzten wahrzunehmen. Sie kommen und gehen, unsere Superhelden. Und sie haben gute und auch weniger gute, manche auch wirklich schlechte Seiten. Gemeint sind hier Profilneurosen und Persönlichkeitsdefizite. Führungsverhalten, vor dem ich Respekt hätte, sollte in sich ruhen. Fachliche Kompetenz, Erfolg, konstruktive Mitarbeiterführung, charakterliche Stärke, also eine Art Moral, fehlende Käuflichkeit, Freundlichkeit – da hätte ich Respekt vor. Der unbändige Wille zu führen reicht nicht.
Kommen wir noch einmal auf das Jahr 2014 zurück, als schon wieder ein Chefwechsel anstand. Diesmal war es ein gut bekannter Chef, jemand mit Sozialverträglichkeit. Also echt eine positive Perspektive! Aber was bedeutete das für mich? Immer wieder Wasserträger zu sein, die glühenden Kohlen aus dem Feuer zu holen, das Risiko für andere zu tragen, wieder den ruhenden Pol geben zu müssen? Immer noch fachlicher Leader zu sein, obwohl meine hierarchische Position dem nicht entsprach? Sich wieder über Dinge aufregen und verantwortlich fühlen, für die eigentlich Andere zuständig sind?
Dankenswerterweise hat Christa mich an das Prinzip des „Wu wei“ erinnert. Hier ist nicht gemeint, dass man einfach alles laufen lassen soll. Also nicht analog zu „Let it be“, „Vergiss es“, „Ist doch egal“, keinesfalls „Laissez faire“. Das wäre vollkommen kontraproduktiv, „Wu wei“ ist eher zu beschreiben als „Aktives Zuwarten“, „Den Dingen den Raum zur Selbstentfaltung gewähren“, „Nichthandeln als aktive Vorgehensweise“. Es ist genau das Gegenteil des berühmten HB-Männchens, das bei der kleinsten Kleinigkeit sofort durch die Decke geht.
Christa hat dann in kalligrafischen chinesischen Schriftzeichen, also in Schönschrift, „Wu wei“ in ein Bild mit eindrucksvoll stilisiertem chinesischen Hintergrund geschrieben. Das Ganze hatte ich als Kopie danach zu Erinnerung auf dem Schreibtisch stehen. Es hängt als Original in meiner Wohnung und ist als Hintergrundbild auf dem Smartphone eingerichtet. Ich glaube, es hat geholfen.
Der Daoismus als eine traditionelle chinesische Weltanschauung, aus der dieses Wort stammt, interessiert mich nicht so. Hier entspräche „Wu wei“ einem innewohnenden Prinzip, das sowieso irgendwann zur Geltung kommt. Der Blick auf die nur etwas später entstandene Philosophie der Stoa zeigt hier ein ähnliches Modell. Das ist aber ein sehr komplexes Thema, das seinen Beginn im alten Griechenland hatte. Kritiker haben schon lange den zugehörigen Determinismus kritisiert. Aber ist diese Denkweise, das eventuell Alles vorbestimmt sei, nicht auch der aktuellen Hirnforschung vertraut? Sind wir in unseren Entscheidungen denn wirklich so frei, wie wir in unserer Selbstüberschätzung glauben? Die Stoiker nannten es „Beherrschtheit“, die nötig sei, um seinen Platz im globalen System zu gewinnen. Eventueller Aufruhr und Kampf dagegen sei ebenfalls vorbestimmt. Da ist was dran, an diesen alten Denkmodellen. Mit sich selbst Frieden schließen, das hat auch heute etwas.
Der Gedanke, dass unaufgeregtes Handeln generell hilfreich sei, den finde ich für mich selbst gut. Als nun im Job erneut Spannungen – diesmal um Coronavirus – aufkamen, war mir klar, dass der richtige Zeitpunkt für den Eintritt in den beruflichen Ruhestand gekommen war.