Clinical Nutrition and me

Es war etwa im Jahr 1998, als ich eine Begegnung der besonderen Art hatte. Sie werden danach besser verstehen, warum ich der Meinung bin, dass es fast immer unwissenschaftlich wird, sobald es um Effekte der Ernährung auf Gesundheitsdinge geht. Nur für die krankhafte Adipositas akzeptiere ich das.

Dafür muss ich etwas ausholen. Im Krankenhaus war damals die intravenöse Ernährung noch komplett auf die Zusammensetzung aus Einzelkomponenten angewiesen, die heutigen Fertigbeutel für Ernährungslösungen gab es noch nicht. Mein damaliger Chef Prof. Menge machte sich einen Jux daraus, die Assistenzärzte bei der Visite abzufragen im Stile: „Wie viel Magnesium ist denn in der Infusion?“ oder „Wie viele Kalorien führen Sie pro Tag zu?“ Es versteht sich von selbst, dass die das nicht wussten – er selbst natürlich auch nicht, aber als Chef stellt man ja die Fragen. Bitte!

Ich habe als Resultat dieser leicht absurden Situation in der Klinik meinem Hobby gefrönt und eine Software „INFTHER“ zu Erstellung von Infusionsplänen entwickelt. Zunächst erfolgte die Entwicklung für den Atari ST, dann in Turbopascal für MS-DOS und später in Visual Basic für Windows 3.1. Die beiden letzten Versionen habe ich sogar vermarktet. Aus heutiger Sicht waren das Apps, die zwar begrenzte Möglichkeiten aber dennoch eine Reihe von nützlichen Funktionen im Umfeld der Ernährung boten. Man konnte eine Analyse des Ernährungsstatus vornehmen und eine Entscheidungslogik aufrufen. Musterinfusionspläne konnten für viele Anwendungsfälle abgerufen werden. Im Mittelpunkt stand eine Kalkulationstafel, mit der man gleichzeitig bis zu 98 Parameter verwalten konnte. Eine Besonderheit war die Überwachung der Grenzdosierungen und der zulässigen Infusionsgeschwindigkeiten.

Was fehlte, war damals die Konnektivität insgesamt, das Internet, die Netzwerkanbindung und mehr. Wenn man so will, war die Software ihrer Zeit weit voraus. Heute wäre sie als Werbeträger der Industrie viel besser denkbar.

Ich konnte für Testzwecke sogar Elementar- und Formeldiäten einfügen, genügend Felder für Inhaltsstoffe waren ja vorhanden. Und schließlich war ich bei der Beschäftigung mit der Ernährungstherapie bei dem großen Thema „clinical nutrition“ angekommen. Mir wurde klar, dass es Mangelzustände gibt, die teilweise direkte Auswirkung auf die Prognose bei Operationen und Erkrankungen haben. Ich habe deswegen mehrere Kongresse besucht, die Software dort vorgestellt und weiteres Wissen erworben.

Nun brauchten die Assistenzärzte nur noch die ausgedruckten Pläne lesen – alle Zahlen waren ja vorhanden.


Es geht – und damit sind wir wieder beim Ausgangsthema – um einen Kongress etwa 1998 in Berlin. Die Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin fand dort statt. Veranstaltungsort war ein Konresszentrum in der Friedrichstraße, Shopping in gehobener Umgebung somit leicht möglich. Das Kongresszentrum war damals noch nicht so schick wie heute. Es war insgesamt nicht sehr hell, es hatte aber großflächige Vertäfelungen mit hellem Holz. Das hat meine Erinnerung geprägt. Ich habe es deswegen immer gern als „Russisches Kongresszentrum“ bezeichnet.

Ein typischer Vortrag ist mir besonders in Erinnerung geblieben, als eine sehr schlanke Oecotrophologin mit ernstem Gesicht über die Bedeutung der verschiedenen natürlichen Farbstoffe in Lebensmitteln sprach. Sie hob die enormen positiven Effekte hervor, das sei alles schon fast bewiesen, da fehlten nur noch allerletzte Schritte der Forschung. Meiner Erinnerung nach war dadurch das Altern womöglich zu besiegen. Ich richtete schnell noch mal einen Blick in das Auditorium, alles jüngere Frauen, aber alle mit strengem Blick, kein Lächeln, ernsthaft. Alle waren sicherlich leicht untergewichtig.

Das war die Message: Es geht beim Essen schließlich um etwas, das ist kein Spaß. Gesundheit und langes Leben durch richtiges Essen! Jawohl. So wirklich zum Wohlfühlen war das für mich leider nicht.

Wäre da nicht noch der angenehme Gesellschaftsabend im Opernpalais bei Unter den Linden gewesen. Das ist eine nette historische Location, große runde Tische, vornehm gedeckt, sehr gutes Essen, wirklich lecker, und genug davon, mehrere Gänge, guter Wein. Dazu spielte ein Streichquintett wunderbare klassische Musik. Wohlsein! Was will man noch mehr! Ich war mit allem wieder versöhnt. Ich meine, einige Kongressteilnehmerinnen hätten auch lächeln können.


Die Erfahrungen im Umgang mit der Software zeigten später, dass die optimierte künstliche Ernährung bei Schwerkranken keinen prognostisch günstigen Effekt erkennen ließ. Ihr Einsatz war eher ein Schweregradmarker, ein Hinweis auf ungünstige Prognose, kaum ein wirksames Therapeutikum. Es gilt auch für die Ernährungstherapie meist die Devise „Nihil nocere“. Ein metabolischer Overload ist unbedingt zu vermeiden, die längere Zeit propagierte Hyperalimentation führt häufig direkt in die Katastrophe.

Durch Veränderungen des Zwischenstoffwechsels und der Zytokine ist eine positive Beeinflussung der Erkrankung durch Ernährungstherapie somit nicht oder nur marginal möglich. Wegen des Publication Bias werden derartige negativen Sachverhalte meistens nicht publiziert. So war es auch in unserem Falle. Aber wir haben immerhin etwas dabei gelernt!

Die komplexe Diättherapie für einzelne Krankheitsbilder ist fast völlig aus dem klinischen Denken verschwunden. Vielleicht mag sie noch begleitend in der Therapie der morbiden Adipositas hilfreich sein, manchmal beim Diabetes, sicherlich bei manchen Stoffwechselkrankheiten. Das war es dann aber mit der einst stolzen Diättherapie.

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