Wenn nicht krank, was sind sie dann?
Vorab: Im Hinblick auf Verschwörungsmythen um den Klimawandel empfiehlt es sich, die Website SkepticalSciene.com zu besuchen. Hier wird sich ausführlich mit dem wissenschaftlichen Fundament der überzeugenden Argumente des menschengemachten Klimawandels beschäftigt. Der Wikipedia-Eintrag dazu findet sich hier. Das aktuelle Beitragsbild Wissenschaftsverleugnung stammt auch von SkepticalScience
Am letzten Samstag saßen wir abends gemütlich zusammen. Im Gespräch ging es um sehr unterschiedliche Bereiche des Lebens. Plötzlich stellte K. die Frage, ob Coronaleugner, Impfgegner und sonstige Verschwörungsanhänger nicht einfach nur krank seien („verrückt“).
Warum sollten sie sonst völlig unwissenschaftlichem und oft abstrusem Gedankengut anhängen? Selbst persönlich bekannte Arztkollegen seien betroffen! Warum lassen sie sich nicht durch stringente wissenschaftlich begründete Argumente überzeugen? Das entspräche dann einer Art von Psychose, einem Wahn. Aber wie kann man bloße Meinung und wahnhaftes Denken unterscheiden?
In einem pragmatischen Schnellschuss gab ich zu bedenken, dass man das einfach an den funktionalen Folgen solchen Gedankengutes unterscheiden könne: Wenn es hierdurch zu sozialen oder gesundheitlichen Einschränkungen im Sinne der WHO-Definition der Gesundheit („Zustand völligen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens“) käme, dann sei die Einordnung als Krankheit berechtigt.
Erst danach wurde mir klar, dass ich mich erst einmal zu diesem Thema schlaumachen sollte. Zunächst habe ich mit einer einfachen Suche geforscht, war aber mit den Resultaten nicht zufrieden. So werden fast nur nicht weiter substanziierte Artikel in den üblichen Medien gefunden. Dann habe ich mich an PubMed erinnert, und daran, dass ich ein ganz früher Fan dieser Säule der Evidenzbasierten Medizin bin.
Nachdem ich mich zunächst mit den korrekten englischen Übersetzungen der Begriffe Verschwörung und Leugner beschäftigt hatte, konnte die simple Suche mit conspiracy or denier starten. Damit ergaben sich insgesamt 1483 Treffer in der kompletten Datenbank. Die Grafik der Trefferhäufigkeit zeigt das Maximum in 2021, mit 214 bis heute schon mehr als in jedem Jahr zuvor.
Somit beschäftigt sich die Forschung umfangreich mit dem aktuellen gesellschaftlichen Trend. Dennoch ist die Art der Artikel für mich ungewohnt, denn sie stammen aus der Sozialmedizin oder mehr noch aus der Psychologie oder der Psychiatrie. Ich habe willkürlich einen grundsätzlichen Artikel mit immerhin 67 Literaturzitaten herausgegriffen und fragmentarisch zusammengefasst, soweit ich ihn überhaupt verstehe. Dieser beschäftigt sich mit dem Zusammenhang zwischen Verschwörungstheorien und psychiatrischen Erkrankungen, wenn auch im Kontext der Klimakrise.
Soaring seas, forest fires and deadly drought: climate change conspiracies and mental health heißt der ganz aktuelle special article aus dem BJPsych Bulletin vom 4.8.2021. Schon ganz am Anfang steht, dass es bisher keine schlüssige Literatur zu einem direkten Zusammenhang gäbe. Das ist eine Kernaussage, immerhin. Und das bei der großen Häufigkeit dieser Theorien in der Allgemeinbevölkerung von bis zu 40 %!
Warum übernehmen Menschen diese Verschwörungstheorien überhaupt? In unsicheren Zeiten scheinen sie einen Schutz zu bieten, Ängste werden damit gemindert. Das, was man nicht versteht, bekommt einen Sinn, es wird fassbar. Außerdem findet sich der Betreffende in einer Gruppe von Gleichgesinnten wieder, „wir gegen die“. Betroffen seien häufig Männer, noch dazu vermehrt in sozial abgehängten Minderheiten. Coronaleugner seien mehr emotional betroffen als Klimakrisenleugner, da letztere sich häufiger in der konservativen Weltsicht der offiziellen Politik wiederfänden.
Inwieweit Verschwörungstheorien überwertige Ideen oder gar Delusionen seien, also komplett fixierte persönlichkeitsferne Ideenwelten, bleibt derzeit offen. Auch sind solche manchmal als Elemente einer sozialen Subkultur einzuschätzen, und damit nicht einer psychiatrischen Erkrankung. Es gibt also Unsicherheiten bezüglich der Zuordnung.
Eine paranoide Persönlichkeitsstörung kann möglicherweise eine Verschwörungsidee beinhalten, obwohl sie diese mehr auf die Einzelperson bezieht. Erst der Kontakt über die Social media ermögliche es, dass sich Gleichgesinnte finden könnten.
Auch eine schizoide Persönlichkeit soll das Auftreten von derartigen Ideen begünstigen, obwohl solche Menschen ebenfalls mehr auf sich selbst fixiert seien.
Nihilistische und apokalyptische Vorstellungen können bei psychotischer Depression mit Verschwörungstheorien und Weltuntergangsszenarien ausgefüllt werden. Eine Fallhäufung im Umfeld der Verschwörungstheoretiker sei in dieser Hinsicht allerdings nicht zu beobachten.
Ähnliches gilt für die Zuordnung zu psychotischen Erkrankungen. Es gäbe keine Beweise für Zusammenhänge zwischen Verschwörungsdenken und Psychosen. Allenfalls könnten sich vorbestehende Erkrankungen hierunter destabilisieren.
Interessant ist der Hinweis auf die Neigung der Betroffenen zu voreiligen Schlüssen, auf den JTC-Bias, ein lange bekanntes kognitives Phänomen, auch bei Menschen mit Verschwörungsideen. Diese veränderte Wahrnehmung erleichtere die frühzeitige Entscheidung für „falsche“ Ideen. Die Autoren heben darüber hinaus auch auf psychogenetische Merkmale ab, die sowohl in der Gruppe der Verschwörer und Leugner als auch bei Menschen mit unstrittigen psychiatrischen Erkrankungen wie Psychosen, Paranoia oder Schizophrenie zu finden seien. Das begründe auch, warum eine Verschwörungsidee meist nicht alleine bliebe.
Letztlich raten die Autoren den Klinikern zur Vorsicht bei der medizinischen Einordnung dieser Ideen. Es sei aber möglich, dass sie bei vorbestehenden Persönlichkeitsmerkmalen psychiatrische Erkrankungen begünstigen könnten.
Merke:
Wahnsinn alleine ist noch nichts Besonderes.
Erst die sich daraus ergebenden Folgen haben möglicherweise Krankheitswert.
Beim Besuch am letzten Wochenende haben zwei, die es wissen müssen, nämlich ein Psychiater und eine Psychologin, ganz entschieden abgelehnt, dass Coronaleugner, Impfgegner und Verschwörungstheoretiker krank seien.
Das entspricht meinen obigen Ausführungen. Na denn!