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Wandtafel im Musee de Mineurs Wendel: Fürsorge

Fürsorge bei den Bergleuten von Petite-Rosselle

Es ist Mitte September 2024 und Friedrich Merz wurde gerade zum Kanzlerkandidaten der CDU/CSU gewählt. Beim nachfolgenden Interview im TV stellt er sich den kritischen Fragen. Soziale Marktwirtschaft wolle er wieder einführen. Bei mir stellt sich ungläubiges Staunen ein. Das ist nun wirklich nicht neu, denn er selbst hat schon öfter darüber geschrieben. OK, nehmen wir ihn beim Wort. Soziale Marktwirtschaft kann man auch als Synonym des Rheinischen Kapitalismus ansehen. Kapitalismus mit sozialer Verantwortung ist gemeint, ein wichtiges Element des deutschen Wirtschaftswunders. Mir fällt dazu sofort die mehrsprachige Wortwolke ein, die wir neulich beim Besuch des Musée Wendel gesehen hatten. Da geht es unter anderem um die Fürsorge und das Miteinander bei den Bergleuten in Petite-Rosselle.

Soziale Marktwirschaft ist schließlich die europäische Variante des Kapitalismus, der Gegenentwurf zum amerikanischen Modell nach Milton Friedman, der kapitalistischen Markwirtschaft. In den USA findet die soziale Verantwortung nämlich mehr über Charity statt. Almosen reicher Bürger statt soziale Verantwortung aller oder gar des Staates. Die gegenwärtige Debatte um die Migration trägt ebenfalls solche Züge. Sollen die Schwachen doch sehen, wo sie bleiben! Könnte man sagen. Eine aufgeheizte Diskussion erleben wir. Die wirtschaftlich nicht besonders Starken werden gegen Schwächere aufgehetzt. Was der Spruch von Merz zur sozialen Marktwirtschaft da soll, bleibt mir verborgen. Hoffentlich erinnert er sich später daran.


Es ist ein schöner Sommertag, wir fahren von Völklingen aus an der imposanten alten Hütte und weiteren Fabrikhallen vorbei in den Warndt, einem idyllischen, bewaldeten Landstrich mit Tälern und Hügeln. Unser Ziel ist das Musée Les Mineurs Wendel in Petite-Rosselle. Hier kann man auf einem großen freien Gelände mehrere Fördertürme, die Aufbereitung, die Kohlenwäsche, ein Besucherbergwerk und ein Museum sehen bzw. besichtigen. Ich fand den Bereich soziale Fürsorge und Miteinander sehr interessant. Denn Bergleute haben einen risikoreichen Beruf, vor allem untertage. Ohne das Miteinander funktionierte hier gar nichts. Das wussten auch die Unternehmer. Insofern wird eine Art soziale Modellsituation vorgestellt.

Dabei hat es viele Maßnahmen der zuletzt staatlichen Minengesellschaft in Lothringen gegeben. Gesundheitsfürsorge, Arbeitsschutz, soziale Einrichtungen, altersabhängige Vergütungen, Urlaubsgeld, gesicherte Rente, Familienunterstützung und mehr. Ob das früher auch so war, als die Mine noch zum Familienkonzern de Wendel gehörte, das weiß ich nicht. De Wendel war seit dem ausgehenden Mittelalter eine Dynastie mit vielen Unternehmen der Eisen- und Stahlerzeugung, vorwiegend regional in Lothringen. Die Kohlegruben im Warndt dienten der Unterstützung der dortigen Hüttenwerke. Heute ist de Wendel eine börsennotierte Kapitalgesellschaft, ein Mischkonzern. Alle Kohleminen sind geschlossen, die meisten Hüttenwerke auch.

Im Museum schauen wir auf eine große Wandtafel mit etlichen typischen Bildern als Zeichen der sozialen Fürsorge des Unternehmens, also der Gemeinschaftseinrichtungen. Mich erinnert das Ganze an die soziale Fürsorge durch Unternehmen wie Ermen & Engels oder auch das Textilunternehmen Wülfing in Dahlerau und Lennep. Im Zuge des Neuaufbaues nach dem zweiten Weltkrieg haben solche Konzepte als Vorlage für die sogenannte „soziale Marktwirtschaft“ gedient. Die wird als entscheidender Grund für das deutsche Wirtschaftswunder gehandelt.

Wandtafel im Musee de Mineurs Wendel: Fürsorge oder besser soziale Marktwirtschaft
Wandtafel im Musee de Mineurs Wendel: Fürsorge

Nun als dreisprachiger, transkribierter Text:

Wandtafel im Musée Les Mineurs Wendel à Petite-Rosselle en Lorraine

Se reposer Im Studium finanziell unterstützt werden Être augmenté à l’ancienneté Receiving an award Transportiert werden Sich verausgaben Être logé Getting food at co-ops Être transporté Percevoir une retraite Untergebracht werden Going for broke S’évader Kinder betreuen lassen Faire soigner et nourrir les nourrissons Getting child care Prévenir les accidents du travail et les maladies Mit Wärme versorgt werden Se divertir Preventing workplace accidents and illnesses Getting pay rises with age Retiring Im hohen Alter mehr Lohn ausgezahlt bekommen Sich erholen Être soigné Getting treatment Im Urlaub finanziell unterstützt werden Witwen unterstützen Faire garder les enfants Convalescing Faire contrôler sa santé Commuting Being put up Dem Alltag entkommen Être soutenu financièrement pour ses études Seine Gesundheit untersuchen lassen Meeting up Funding for holidays Être chauffé Sich vergnügen Drawing a pension Se depenser Percevoir une rente Soutenir les veuves Sich bilden Ausgebildet werden Relaxing Learning Arbeitsunfällen und Krankheiten vorbeugen Getting heat Se cultiver Training Se rétablir Den Ruhestand antreten Nach einer Tariftabelle entlohnt werden Getting away from it all Être rémunéré selon une grille Being entertained Sich ausruhen Getting food and care for infants Ausgezeichnet werden Sich versammeln Säuglinge versorgen und ernähren lassen Être formé Être décoré Se réunir S’alimenter dans les coopératives Sich über Genossenschaften ernähren Getting check-up Eine Rente beziehen Supporting widows Versorgt werden Funding for studies Être soutenu financièrement pour les vacances Getting paid according to a pay scale table

Eigentlich ist das, was an Aspekten auf der Tafel genannt wird, für mich gedanklich selbstverständlich. Oder bin ich ein Illusionist, ein Sozialromantiker? Fürsorge, Zuvorkommenheit, Sicherheit bei der Arbeit, Unterstützung auch der Familie, Versorgtsein im Alter, gar die Wärmeversorgung! Ist das nicht, was sich alle Menschen bei ihrer beruflichen Tätigkeit wünschen? Im Warndt sind heute noch die Bergmannssiedlungen zu sehen. Vergleichsweise kleine Doppelhäuser waren das oft. Aber immerhin bieten sie den Menschen noch heute Wohnung und Zusammengehörigkeit.


Doch durch die Coronapandemie und die aktuellen Kriege ist eine große Verunsicherung aufgetreten. Auf einmal war beispielsweise die Wärmeversorgung im Winter, ein Menschenrecht sozusagen, in Gefahr. Das eigene Gesundheitsrisiko wirkte ebenfalls unkalkulierbar. Falsche Propheten wie Ballweg, die Wagenknecht und die A-Partei haben Konjunktur. Die Entsolidarisierung droht. Mit den Schwachen, den Geflüchteten, mit den Angegriffenen, den Opfern. Das Gespenst des Nationalsozialismus wirft bereits deutlich Schatten.

Sehr viel, von dem, was sich an sozialen Errungenschaften seit der Mitte des 19. Jahrhunderts und erst recht nach dem Zweiten Weltkrieg ergeben hat, scheint aktuell zur Disposition zu stehen. Entsolidarisierung als Element des Zeitgeistes. Es ist kaum zu glauben.

Erinnern wir uns doch an die Fürsorge bei den Bergleuten von Petite-Rosselle, an die gelebte Solidarität. Spuren davon sind nicht nur in Lothringen, sondern beispielsweise in Nordrhein-Westfalen vorhanden. Beispielsweise in Wuppertal, in Engelskirchen, in Essen, in Lennep und in Dahlerau. Sozial verantwortlicher Kapitalismus, die soziale Marktwirtschaft, hat eine lange Tradition. Auf sein amerikanisches Gegenstück kann ich gerne verzichten.

Nachtrag: Immobilien kann man derzeit in Petite-Rosselle zuhauf erwerben. Dabei liegen die Preise bei unglaublich niedrigen 1000 € pro Wohnquadratmeter. Das bedeutet, dass der Ort sich in einer schwierigen Transformationsphase befindet. Idylle ist hier definitiv nicht zu erwarten. Lothringen zählt zu den benachteiligten Regionen in Frankreich.

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