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Projekt Johannes Seipp

Nachfahre eines charismatischen Predigers zu sein…

Ich erlebe mich auch heute noch als Teil einer großen und weitläufigen Familie, früher „Seippe“ genannt. Deren Besonderheit waren und sind eine hohe Ortsgebundenheit und eine erstaunlich weitgehende Beibehaltung der pietistischen Denk- und Verhaltensweisen. Der ganze Stamm ist auch vergleichsweise kinderreich, sodass er heute schon unübersichtlich für mich ist. Mich hat immer gewundert, dass ich nur wenige Nachfahren in meiner Generation kenne, die eine Führungsposition im Beruf oder in Verbänden erreicht haben. Bei so viel begabten und gut ausgebildeten Leuten ist das verwunderlich.

Warum hat sich das Wertebild so konserviert bis heute? Was macht das auch heute noch mit den Familienmitgliedern? Warum sind wir so, wie wir sind? Und vor allem: Was weiß man über den gemeinsamen Vorfahren Johannes Seipp?

Ausgangspunkt

Vor Jahren kam mir bei einem Familientreffen der Nachkommen der Gedanke, das Thema mal aufzuarbeiten. Ich habe seitdem Material gesammelt, nämlich eine Festschrift der 1200-Jahr-Feier Rechtenbach von 1988, Materialien der Evangelischen Gesellschaft, darunter eine umfangreiche Laudatio von 1909, Dokumente aus dem örtlichen Archiv. Auch hat es mehrere Gespräche gegeben, Christiane Schmidt hat mich freundlich beraten, sie ist ja Gemeindearchivarin vor Ort. Harald Hensel als begeisterter Genealoge hat dankenswerterweise in seinen Unterlagen nachgesehen und u. a. Ablichtungen der Sterbeurkunden von Johannes und Katharina Elisabeth Seipp zugesandt. Meine Schwester Ingrid hat ihre umfangreichen Erinnerungen bemüht, und Christoph Lang hat mir eine DVD mit weiteren Materialien geschickt. Ob in den Archiven der EG in Radevormwald zu J. Seipp etwas zu finden ist, insbesondere seine Aufzeichnungen, das werden wir sehen. Ich habe die Gesellschaft in Radevormwald vor einigen Tagen angemailt.

All diese Informationen sollen jetzt, da ich offensichtlich fast im Ruhestand bin, zusammengeführt werden. Da habe ich mir aber viel vorgenommen! Es werden schließlich manche Empfindlichkeiten berührt.

Der Mensch Johannes Seipp

Mein eigentliches Ziel ist es aber, den Menschen Johannes Seipp (geb. 1832, gest. 1908) in seiner Zeit, in seiner sozialen Situation, in seinem Alltag als Bauer (Kleinbauer klänge abwertend, das Wort Ackerer trifft aber die Verhältnisse m. E. besser) zu sehen. Mit mehreren Schicksalsschlägen. Und wie daraus ein geschätzter Laienprediger, damals Kolporteur oder Bote genannt, wurde, der überregional bekannt war, und Kontakte beispielsweise nach Remscheid (Fam. Theill) und nach Wuppertal zur EG hatte. Wer war dieser besondere Mensch?

Wilhelm Lang hat am 25.5.2020 die Personen auf dem Bild nach eigener Kenntnis benannt, einen herzlichen Dank dafür, auch an Wilfried Lang und selbstverständlich an Harald Hensel, alle Großrechtenbach! Christa Beschnitt danke ich herzlich für die Unterstützung bei Suche, natürlich auch für die Beratung und den gedanklichen Austausch beim Versuch der historischen Einordnung.

Johannes Seipp mit Familien seiner Töchter

Hinten v.l.n.r.: Karl LANGSDORF (geb. 10.04.1884), Johannes SEIPP (geb. 16.12.1832, gest. 21.4.1908), Wilhelm LANGSDORF (geb. 22.06.1888)
Mittlere Reihe: Friedrich LUDWIG (geb. 20.04.1862), seine Ehefrau Luise SEIPP (geb. 18.08.1860, verst. 15.3.1900),
Katharina SEIPP (geb. 08.03.1864, verst. 7.8.1897), ihr Ehemann Friedrich Wilhelm HÖLß (geb. 12.12.1862)
Vordere Reihe: Luise LUDWIG (geb. 22.11.1889), Friedrich LUDWIG (geb. 14.09.1891), auf dem Schoß der Mutter: Karl LUDWIG (geb. 5.11.1894),
auf dem Schoß ihrer Mutter: Katharina HÖLß (geb. 15.12.1893),


Weitere Information Stand 29.5.2020: Das Foto muss vor dem 7.8.1897 entstanden sein, denn Katharina (das war ihr Sterbedatum) und „Kathrinchen“ HÖLß sind auf dem Bild zu sehen. Seipps Frau Katharina Elisabetha geb. SCHMIDT (geb. ca. 1835, gest. 25.5.1883) und seine Tochter Maria LANGSDORF geb. SEIPP (geb. 11.1.1858, gest. 21.9.1890) sind schon nicht mehr mit auf dem Bild. Ihr Ehemann Jacob LANGSDORF (nicht mit auf dem Bild) war in 2. Ehe mit Maria ZÖRB (geb. 24.7.1864) verheiratet. Etwa zu dem Zeitpunkt des Fotos war Seipp nicht mehr Ortsvorsteher von Großrechtenbach, wie man der Sterbeurkunde von Katharina HÖLß entnehmen kann. Aber 1907 sei er noch als Vertreter des Vorstehers tätig gewesen (CS).

(Urkunden dazu aus dem Hessischen Staatsarchiv Marburg, Standesamt Rechtenbach)
Obige Angaben werden noch weiter bearbeitet und erweitert (29.5.2020)

Was mich besonders interessiert, wären seine persönlichen Aufzeichnungen. Diese werden in den Dokumenten der Evangelischen Gesellschaft erwähnt. Doch leider konnten wir sie bisher in Rechtenbach nicht finden. Wenn es sie denn wirklich noch gibt, wäre das ein Dokument eines Zeitzeugen. Das wäre dann wirklich etwas Besonderes. Nicht nur bloßes Nachempfinden durch Geschichtsbegeisterte.

Zeitalter des gesellschaftlichen Umbruchs

Es bietet sich an, das Umfeld und die Zeit der Gründung der Evangelischen Gesellschaft (1848) in Elberfeld und Barmen wahrzunehmen. Das war schließlich das Jahr der Nationalversammlung in der Paulskirche in Frankfurt. Hier handelte es sich um die ersten Gehversuche der deutschen Demokratie. Dieses Jahr war der vorläufige Höhepunkt der deutschen Revolution. Die Epoche von 1815 bis 1848 wurde Vormärz genannt, eine politisch unruhige Zeit, in der es um den Kampf für Freiheit der Bürger und gegen die Armut ging. Schon gegen Ende des 18. Jahrhunderts zeichnete sich bereits das Ende der Feudalzeit ab. Erst Anfang des 19. Jahrhunderts (1808, bzw. 1811) wurde schließlich die Leibeigenschaft aufgehoben, wobei deren Folgen noch lange nachwirkten. Die Leibeigenen mussten sich schließlich bei den Feudalherren freikaufen, und wer arm war, der konnte das nicht. Somit kam es in weiterer Folge teilweise zu verschärfter Not, zu Armut, zu Auswanderungen nach Russland und Amerika.

Preußen wird in Mittelhessen zur Leitmacht

Dieser Abschnitt wurde auf Nachfrage meiner Schwester Ingrid H. eingefügt (s. Kommentare).

Die Beschlüsse des Wiener Kongresses 1815 führten zu einer regionalen Neuordnung auch in Mittelhessen. So war der Wetzlarer Raum zunächst für Preußen mehr militärisch interessant. Gerade deswegen sollte das zunächst für den neu zu bildenden Kreis Wetzlar schwerwiegende wirtschaftliche Belastungen bringen. Sicherlich gab es in der Folgezeit viele Fortschritte wie den Abbau der Zollschranken und den Neubau der Eisenbahn. Dennoch war der gesamte mittelhessische Raum bis in die Mitte des 19. Jh. in weiten Teilen eine Krisenregion mit schlimmen sozialen Problemen mit Existenznot. Im Bereich der Landwirtschaft waren es die teils schlechten Böden, das Bevölkerungswachstum und die Bodenzersplitterung durch Erbteilung, begleitet von der Untätigkeit der politischen Führung.

Rebellion sogar im Kreis Wetzlar

Die revolutionäre Bewegung erfasste um 1848 auch den preußischen Kreis Wetzlar. Es gab am 15.4.1848 eine Rebellion der Bauern des Solmser Landes („Sturm auf Braunfels“) gegen die Solms-Braunfelser Standesherrschaft. Die Beseitigung dieser feudalen Relikte erfolgte erst danach am 15.5.1848 auf Druck des Königreiches Preußen. Allerdings wurde eine Anzahl der beteiligten Bauern verhaftet und teilweise zu langjährigen Gefängnisstrafen verurteilt oder zur Flucht ins Ausland getrieben. Die Bauern hätten sich anschließend wieder aus dem politischen Geschehen zurückgezogen, die politische Führungsrolle fiel 1848/49 wieder dem städtischen Bürgertum zu. Dies profitierte nach dem Scheitern der Revolution dennoch von den wirtschaftlichen Fortschritten. Der mittelhessische Raum, auch das Lahn-Dill-Gebiet war durch den Eisenerzabbau, die Verhüttung und den Bau der Lahntalbahn und der Linie Köln-Gießen begünstigt. Mit den großen Industrieregionen konnte man allerdings nicht konkurrieren. Preußen konnte dem Bürgertum wenigstens wirtschaftlich etwas bieten, anders als die Staatsführungen in Hessen-Nassau und Kurhessen. Der Wunsch nach einem preußisch geführten deutschen Nationalstaat kam somit auf.

Annektion des gesamten Mittelhessens

Um 1866 annektierte Preußen den kurhessischen und den nassauischen Staat, im Friedensvertrag von Hessen-Darmstadt erhielt Preußen auch noch das Hinterland um Biedenkopf bis z. B. Rodheim, Waldgirmes und Hermannstein dazu. Das gesamte Mittelhessen hatte schließlich erstmals eine gemeinsame Regierung und gehörte zum Norddeutschen Bund. Als dann noch 1870/71 der deutsch-französische Krieg gewonnen wurde, nahm dies die Bevölkerung Mittelhessens begeistert auf. Denn der Einheitsstaat schien neben dem wirtschaftlichen Aufschwung auch eine Liberalisierung des politischen Systems bieten zu können.

(Die obigen drei Absätze vereinfacht nach Hans Werner Hahn, Die geschichtliche Entwicklung Mittelhessens, 3. Zwischen Einzelstaat und Nationalstaat 1815 bis 1870/71, in „Mittelhessen, aus Vergangenheit und Gegenwart“, Marburg 1991 sowie unter Mitverwendung des Wikipedia-Artikels zu „Fürstlich Solms-Braunfels’sche Regierung“ 27.5.2020, siehe auch das Dokument dazu auf Braunfels.de.)

Rechtenbach um 1848

Was bedeutete das für die Bewohner von Großrechtenbach? Die Region war damals wie erwähnt enorm rückständig und verarmt. Da der Ort nur am Rande der Wetterau gelegen war, hatte er keine besonders ertragreichen Böden. Als J. Seipp ein junger Mann war, nahm zusätzlich die Frühindustrialisierung im Lahn-Dill-Gebiet Fahrt auf, mit den bekannten Umbrüchen und sozialen Verwerfungen. Bergbau für Eisenerz, Holzkohlegewinnung und Verhüttung standen zunächst im Vordergrund, doch schon bald begann durch Einflüsse aus England der Strukturwandel auch im Lahn-Dill-Gebiet. Die Steinkohle löste bald die Holzkohle ab.

Durch Rechtenbach führte die bedeutsame Handelsstraße vom Ruhrgebiet nach Frankfurt, zwischenzeitlich als Bundesstraße 277 bezeichnet. Somit zogen viele Pferdefuhrwerke durch den Ort, die Pferde mussten gewechselt werden, die Fuhrleute untergebracht und versorgt werden. Es gab im Ort mehrere Gasthäuser bzw. Brauereien („Beyerbrauersch“, „Krunewirts“, „Amends“, „Post“, „Seiphannese“), und der Alkoholgebrauch war weit verbreitet. Und damit auch dessen negative Folgen.

Bekannte Namen der gleichen Region und Zeit

Pfarrer Friedrich Kilian Abicht aus Hochelheim verfasste 1836/37 eine umfangreiche Abhandlung „Der Kreis Wetzlar – historisch, statistisch und topographisch“ (Frei zugänglich auf Google Books). Darin äußerte er sich u. a. auch zur Lebensweise und zum Charakter der Bewohner der Region. Er schreibt ihnen einen gewissen rechtlichen Sinn zu, ein strenges Beharren beim Herkömmlichen, eine etwas herbe Geradheit, Neigung zur Klassenabgrenzung gegen die Städter, man fühlte sich ihnen gegenüber weit überlegen (CS). Kriechen und Schmeicheln sei nicht ihre Sache, sie redeten andere auch höherstehende mit „Ihr“ statt „Sie“ an, der Kastengeist sei dennoch für den Staat mehr nützlich als schädlich, und gipfelt in der Aussage, dass ihre gesellschaftliche und politische Schwerfälligkeit zuweilen der Ballast des Staatsschiffes sei. Ein starker Spruch des gebildeten Pfarrers! (CS: Der Gebrauch der Anrede Du/Ihr im dörflichen Umfeld war ihm anscheinend nicht geläufig.)

Aus dem nahe gelegenen Oberkleen stammte Friedrich Weidig, Theologe, Publizist und Turnvater, der zusammen mit Georg Büchner Herausgeber des hessischen Landboten war, einer markanten revolutionären Schrift des Vormärz. August Bebel (geb. 1840 in Köln-Deutz, gestorben 1913 in Passug, Schweiz) verlebte seine Jugendjahre in der benachbarten ehemaligen Reichsstadt Wetzlar. Er war einer der Mitbegründer der SPD. Nachdem das Reichskammergericht 1806 letztmalig getagt hatte, erlebte die Stadt eine Art Niedergang. Wilhelm (nicht Karl!) Liebknecht (geb. 1826, gestorben 1900) aus der benachbarten Mittelstadt Gießen, damals zum Großherzogtum Hessen gehörend, war ebenfalls einer der Gründerväter der SPD. Als radikaldemokratischer Revolutionär beteiligte er sich aktiv an den Revolutionen von 1848/49.

Wir sollten nicht vergessen, dass 1948 auch das Jahr der Veröffentlichung des Kommunistischen Manifests in London war, verfasst von Karl Marx und Friedrich Engels jr., letzterer der älteste Sohn aus einer alteingesessenen pietistischen Unternehmerfamilie in Barmen. Somit ergibt sich die örtliche, gedankliche und zeitgeschichtliche Nähe. Engels hatte sich schließlich angesichts des sozialen Unrechts und des Elends der Arbeiterklasse vom Pietismus gelöst. Er wurde letztlich einer der Mitbegründer des Sozialismus und des Kommunismus.

Ich möchte keinesfalls behaupten, dass mein Vorfahre ähnlich bedeutsam war wie oben genannte Persönlichkeiten. Es geht mir lediglich um den Bezug von Zeit und Region des Umbruchs, der mühelos hergestellt werden kann. Vergleichsweise ähnliche Lebensumstände, oder wenigstens ein Blick auf die Lebensumstände der verarmten kleinen Leute durch gehobenere Schichten (Pauperismus genannt, neben dem sozialkritischen Anteil zusätzlich ein damals beliebtes Genre in Literatur und Kunst, s. Zille), beeinflussten die o. g. berühmten Persönlichkeiten.

Erinnern möchte ich noch an Pfarrer Paul Schneider (geb. 1897, im KZ umgebracht 1939), Prediger vom KZ Buchenwald, der einige Jahre Pfarrer im Nachbarort Hochelheim war. Aber das war eine andere Zeit. Doch die gleiche Region.

Wer war Johannes Seipp?

Anders als mein Vorfahre Johannes Seipp entstammen diese berühmten Menschen aber nicht Bauernfamilien. Und das genau ist die Besonderheit. Ich erinnere mich noch sehr gut an meinen Großvater Wilhelm Lang Jg. 1895 als den nachdenklichen und gebildeten Bauern, der belesen war und die Sterne kannte, also die Gestirne am Himmel benennen konnte, obwohl er das bestimmt nirgendwo gelernt hatte. Was bewegte nun meinen Vorfahren in der Zeit der Umbrüche im 19. Jahrhundert diesen Weg zu gehen, der damals selbst im dörflichen Umfeld nicht üblich war? Statt auf äußeren Umbruch zu setzen, sich zu Klassenkampf und Revolution hinzubewegen, suchte er einen Weg nach innen, in die Besinnung, zur Religiosität.

Nun werde ich im nächsten Schritt versuchen, aus dem vorhandenen Material ein vorläufiges Bild seiner Person zu entwickeln. Vielleicht können später doch noch Hinweise auf die verschollenen Aufzeichnungen gefunden werden. Diese würden die Sicht auf sein Leben sicherlich bereichern.

Schilderungen aus seinem Leben

Stark verkürzt, leicht abgewandelt, bestimmte Inhalte hervorgehoben, weitgehender Verzicht auf Erbauungssprache und Anekdoten, nach „Unser Bote für die Gemeinschaftskreise XI. Jg. Nr. 15, 11.4.1909, Zeitschrift der EG in Elberfeld – Barmen“, zusätzliche Angaben aus den Sterbeurkunden und einem Auszug aus dem Hessischen Geschlechterbuch Band 144 „Lang“ von 1967

Eltern, Fakten

Geboren wurde er am 16.12.1832 als Sohn des Ackerers Adam (so gel.) Seip(p) und Anna Elisabeth(a) geborene Lang (VII h 3. des o. g. Auszugs „Lang“), er verstarb am 21.4.1908. Seine Ehefrau Katharina Elisabeth verstarb am 25.5.1883 im Alter von 48 Jahren, ihre Eltern waren die Ehe- und Ackerleute Peter Schmidt und Katharina Rückert (so gel.). Nach meinem gegenwärtigen Wissensstand hatte er vier Töchter (die erste, Katharina, früh verstorben). Alle verstarben vor ihm.

Kindheit und Jugend

Seine Eltern waren einfache Ackerleute, sein Vater war – wie er selbst später – Ortsvorsteher in Großrechtenbach. Seine Mutter sei eine ernste, fromme Frau gewesen, die damals schon Erbauungsstunden im Pfarrhaus besucht habe. Ein strenger Erzieher des jungen Seipp, damals üblich mit Schlägen, sogar mit einem Glockenseil, sei Pfarrer Lindenborn im Konfirmandenunterricht gewesen.

Seipp sei ein aufgeweckter und begabter Schüler gewesen. Es sei ihm daran gelegen gewesen, sich allerlei nützliche Kenntnisse anzueignen. Trotz der ernsten Erziehung sei er, der einen fröhlichen und lebhaften Geist gehabt habe, in eine verkehrte Kameradschaft hineingezogen worden.

Erwachsen werden

Es ist dann von seinem Leiden „Wechselfieber“ (heute würden wir Malaria* sagen) die Rede, an dem er in jungen Jahren gelitten habe, sodass man schon an Schwindsucht dachte. Schon beim einfachen Bücken sei ihm der Schweiß ausgebrochen. Da die Erkrankung in die Zeit der Einberufung zum Militärdienst fiel, wurde er davon freigestellt. Böse Zungen hätten später behauptet, dass die Krankheit künstlich herbeigeführt gewesen sei, und dass er auch deswegen vom Militärdienst freigesprochen wurde, weil sein Vater gerade Ortsvorsteher war. Diese Krankheit sei als Zuchtmittel Gottes gesehen worden, um ihn auf den rechten Weg zu bringen. Später sei er doch wieder gesund geworden. Es hätte aber noch bis nach seiner Hochzeit gedauert, bis seine religiöse Haltung eindeutig war („völlige Übergabe an den Herrn“). Ein starkes Gewitter bei der Tanzveranstaltung im Rahmen der Hochzeit im Januar wurde als ernste Sprache Gottes gedeutet.

*Malaria war damals in Deutschland weit verbreitet, vermutlich auch in Mittelhessen, Chinin war als Heilmittel bereits bekannt. S. auch Dissertation von D. B. Wollgramm von 2016 S. 96

Mitglied der Versammlung

Nun sei er ein regelmäßiger Besucher der Versammlung zu Rechtenbach gewesen, in der nach alter Sitte jeweils eine gute Predigt vorgelesen wurde, was aber einschläfernd auf die Besucher wirkte. Der quicklebendige Seipp habe die Versammlung dazu gebracht, sich stattdessen auszutauschen, also frischen Wind mitgebracht. Bald schon habe die Versammlung in Seippe Haus stattgefunden.

Karl Ludwig als Wegbeleiter und Ergänzung

Erwähnenswert ist, dass in Rechtenbach neben dem feurigen Seipp als Gegenpol sozusagen und Ergänzung Karl Ludwig geb. 13.4.1846 und gest. am 19.7.1911 als liebevoller, inniger Laienprediger tätig war. Er war auch überregional tätig, und offensichtlich als sanfter Mensch ein erfolgreicher Erweckungsprediger und Missionar. (Nach Festschrift 75 Jahre Ev. Ges. f. Deutschl. im Kreise Wetzlar von Stadtmissionar Julius Schmidt 1928)

Sich kümmern um Kinder

Besonderes Interesse hätte er an der Arbeit mit Kindern gehabt, er begründete die sogenannte „Sonntagsschule“ für Kinder. Diese wurde sogar vom örtlichen Lehrer als Konkurrenz aufgefasst. Seipp hatte die Marketing-Idee mit dem Missionsneger, beim Geldeinwurf nickte der. Den habe ich noch mit eigenen Augen gesehen.

Hilfsarbeiter der evangelischen Gesellschaft

Bemerkenswert sei die Gastfreundschaft der Versammlung z. B. bei Missionsfesten gewesen, dabei habe Seipp seine große Kommunikationsbegabung eingesetzt, er wurde als „Bahnbrecher“ bezeichnet. Und diese Begabung setzte er auch in Nachbarorten ein. Nach 1853 war von der EG zum Stundenhalter und Hilfsarbeiter in der näheren Region bestimmt. 1868 wurde er in den Vorstand des Zweigvereines der EG gewählt. Das bedeutete, das er fast jeden Sonntag als „Hilfsarbeiter“, also Laienprediger unterwegs war. Seine praktische Art sei erfrischend gewesen. Seine Spezialität sei die Anwendung der Dinge aus dem irdischen Leben auf die des geistlichen gewesen. Er sei aber kein „Erweckungsprediger“ gewesen. Urwüchsig sei er aufgetreten, habe das angesprochen, was ihm täglich begegnete. Er habe es aus dem Leben genommen, und deshalb sei das so interessant gewesen, wenn er sprach. Offensichtlich waren besonders die begeistert, die ihn noch nicht erlebt hatten. Er muss Fans gehabt haben, würden wir heute sagen.

Ortsvorsteher

Als gewählter Ortsvorsteher von Großrechtenbach ab Mitte der 70er Jahre sei er keine Kompromisse zu seiner christlichen Grundhaltung eingegangen. Er habe unerschrocken die ungeschminkte Wahrheit ausgesprochen, auch wenn ihm dadurch Nachteile hätten entstehen können. Den Bürgermeister des übergeordneten Amtes Rechtenbach konnte er schließlich doch für sich einnehmen, wenn auch die Wahrheit manchmal etwas derb ausgesprochen worden sei.

Seipp habe seine Aufgabe als Vorsteher ernst genommen, und die Tatsache, dass die Gemeinde verschuldet war, habe ihm Kopfzerbrechen gemacht. Trotz vieler erfolgreicher Projekte sei die Gemeinde zu seinem Amtsende schuldenfrei gewesen.

Gastättenbesuche und Kirmesveranstaltungen, insbesondere an den örtlichen dritten Feiertagen seien ihm ein Dorn im Auge gewesen, und seien erfolgreich von ihm bekämpft worden.

Soziale Verantwortung

Unerschrocken habe er sich für den Erhalt des Kinderheimes am Rande von Rechtenbach eingesetzt, das vor dem Aus stand. Nach zwischenzeitlichem Konkurs wurde die Einrichtung unter neuem Eigentümer mit neuer Leitung fortgeführt.

Überregionale Bekanntheit

Es wird weiterhin berichtet, wie er sich geistreich mit ausgebildeten, also ihm überlegenen Mitarbeitern der EG austauschen konnte.

Im Rahmen mehrerer erfolgreicher Kollektenreisen für die o. g. Rechtenbacher Anstalt ins Bergische Land habe er in Remscheid die Fabrikantenfamilie Theill kennengelernt. Diese habe ihn sehr geschätzt, und es sei eine intensive Freundschaft entstanden. Die Familie Theill hat eine Anzahl von seinen charakteristischen Sätzen erhalten, die zitiert werden. Man habe an ihm, obwohl er ein einfacher Mann war, seine Bildung, seinen feinen Takt und sein sicheres Auftreten geschätzt, gerade auch im Umgang mit Höherstehenden.

Schwierigkeiten stellen sich ein

Nun werden erstmals Krankheitsanfälle erwähnt. Es ist von großen Schwierigkeiten die Rede, die sich von allen Seiten eingestellt hätten, von großen Opfern als Familienvater, von einem langen und schmerzvollen körperlichen Leiden, u. a. von „bösen Knien“. Weitere Details werden nicht genannt.

Dann erwähnt der Text, dass Seipp den Bau des Vereinshauses in Rechtenbach quasi prophetisch vorhergesagt habe.

Seipp und die Obrigkeit

Vor fürstlichen Personen habe er sich nicht gescheut, die Wahrheit zu sagen. Gemeint ist ein Kontakt zum Prinzen Hermann von Solms-Braunfels, einem Reichstagsabgeordneten. Dieser besuchte, offensichtlich auf Goodwill Tour, verschiedene Gemeinden, so auch Rechtenbach und den Vorsteher Seipp. Dieser sei im Gespräch schließlich auf die Übelstände des Volkslebens zu sprechen gekommen. Die Hauptschuld hätten die Hohen und Gelehrten dadurch auf sich geladen, dass sie in Wort und Schrift proklamierten, es gäbe keinen Gott. Die unteren Klassen hätten davon gehört und es aufgegriffen, und im praktischen Gebrauch die Konsequenz daraus gezogen: „Wenn es keinen Gott gibt, der die Geschicke der Menschen lenkt, dann können die Reichen nichts dafür, dass sie reich sind, und die Armen nichts dafür das sie arm sind. Dann kann man sich einfach die Erde gleichmäßig teilen.“ Der Prinz soll ihm in dieser und anderer Hinsicht zugestimmt haben.

Seipp sei ein Prediger gewesen, der auch gerne mal anderen das Wort überlassen konnte, so bei den Himmelfahrtsfesten auf dem Stoppelberg, und dies ohne zu rivalisieren.

Schattenseiten

Es habe aber auch wenige Schattenseiten gegeben, wie Pfarrer Engelbert aus Duisburg bemerkte. Es ist die Rede von einer etwas einseitigen Haltung. Nichtreligiöse Menschen habe er nicht verstanden, er habe sie manchmal schief beurteilt, und konnte mit ihnen nicht viel anfangen. Daher hätten ihn diese ihn im Gegenzug manchmal falsch eingeschätzt. Seine scharfen Urteile über manche Verhältnisse hätten ihm nicht nur Freunde beschert. Er sei halt eine „Eliasnatur“ gewesen.

Träume

Abschließend ist davon die Rede, dass Seipp allerlei Träume gehabt hätte, die von ihm jeweils als Offenbarung gedeutet worden seien. Es werden einige Beispiele geschildert.

Zusammenfassung der Attribute

Fasst man die obigen zugeschriebenen Attribute zusammen, so kann man Seipp als hochbegabten und vitalen Menschen wahrnehmen, bodenständig und urwüchsig, mit großer Kommunikationsbegabung, charismatisch, geradlinig, wahrheitsliebend, manchmal sehr direkt. Dennoch sei er feinsinnig gewesen, er habe bei Bedarf gute Umgangsformen an den Tag gelegt. Seipp war außerordentlich fromm, und dabei offensichtlich strikt obrigkeitstreu.

Wie geht es weiter?

Die privaten Aspekte bleiben bei den Schilderungen leider etwas im Hintergrund. Ich finde beinahe keine Hinweise für seine private Situation nach seiner Hochzeit. Immerhin war er Ackerer, der bestimmt viel körperlich arbeiten musste. Reisetätigkeit und Ackerer sein, wie geht das damals zusammen? Seine Frau verstarb recht früh, was hat das mit ihm gemacht? Und wenn seine drei (gegenwärtiger Stand vier) Töchter vor ihm verstarben, dann war das bestimmt sehr schwer.

Diese Sterbefälle in relativ kurzen Abständen, auch bei zahlreichen Enkeln habe ich zum Gegenstand einer weiteren mehr sozialmedizinisch orientierten Betrachtung gemacht (Schicksalsjahre von Johannes Seipp). Ich meine damit die damals hohe Kinder- und Müttersterblichkeit wie auch die damalige eingeschränkte medizinische Versorgung. Die Lebensverhältnisse einschließlich der Ernährungssituation waren ja ungünstig.

Wir können somit einen wichtigen Anteil des charismatischen Predigers Johannes Seipp wahrnehmen, aber ein großer Anteil des Menschen bleibt uns eher verborgen, nämlich der wesentliche Bereich, der seine eigene Familie betrifft.

Man kann – fast wie erwartet – feststellen, dass die fraglichen persönlichen Aufzeichnungen vermutlich der Schlüssel hierzu wären. Wenn ein geneigter Leser davon etwas weiß, wäre ich für einen Hinweis sehr dankbar!

Hier noch ein Familienfoto vielleicht um 1960 im Hof des Seipp’schen Anwesens an der Frankfurter Straße (heute ist dort ein Geschäftshaus) aufgenommen. Mein Großvater Wilhelm Lang ist zu sehen wie auch meine Großmutter Luise Lang geb. Ludwig, eine Enkelin von Johannes Seipp:

Dieser Beitrag hat 2 Kommentare

  1. Ingrid Ho

    Welche Rolle spielt es deiner Ansicht nach, dass der Kreis Wetzlar nicht zum Großherzogtum Hessen sondern zur preussischen Rheinprovinz gehörte?

    1. alrsl

      Ich habe dazu mehrere Texte, einen auch von Christiane Schmidt. Sie spricht von preußischen Demokratisierungsbemühungen in Grossrechtenbach, z. B. Wahl eines Gemeinderates 1846. Also eher positiv im Vergleich zum Umland. (?) Ich werde alle Texte im Download zur Verfügung stellen!

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